Vor dem Wahlzentrum in Philadelphia stehen sich die Anhänger und die Gegner von Donald Trump unversöhnlich gegenüber: „Zählt alle Stimmen!“, ruft eine junge Frau, die gegen den US-Präsidenten demonstriert. „Fake-Stimmzettel“, schallt es von den Trump-Fans zurück. Die Stimmung ist extrem aufgeheizt, die Polizei in höchster Alarmbereitschaft; ein Hubschrauber kreist. Im Gebäude zählen Freiwillige seit der Wahl vom Dienstag fast ununterbrochen Stimmen aus – und der anfangs haushohe Vorsprung von Trump in dem extrem wichtigen Schlüsselstaat schmilzt nach und nach dahin.
„Die betrügen gerade im Moment“, regt sich Diann Candan am Donnerstag (Ortszeit) vor dem Convention Centre auf. Die pensionierte Polizistin ist sich sicher, dass „gefälschte Stimmzettel geholt“ wurden, damit der Trump-Herausforderer und Demokrat Joe Biden gewinnt. Ein anderer Anhänger des US-Präsidenten – mit Cowboy-Hut – schüttelt Polizisten vor dem Gebäude die Hände und dankt ihnen.
Nicht alle Trump-Anhänger zeigen sich so friedlich. Vor dem Wahlzentrum in Philadelphia werden am Donnerstagabend auch zwei bewaffnete Männer festgenommen. Die Polizei soll Hinweise bekommen haben, dass eine bewaffnete Gruppe auf dem Weg zum Wahlzentrum sei, wie lokale Medien berichten. Auch in anderen US-Städten wie in Phoenix im umkämpften Schlüsselstaat Arizona ziehen schwer bewaffnete, teils rechtsextreme Trump-Anhänger vor die Auszählzentren.
Der Präsident und sein Umfeld wirken ihrerseits alles andere als mäßigend auf die radikalen Trump-Unterstützer ein. Im Gegenteil: Trump lässt am Donnerstag erneut eine Tirade gegen den Auszählungsprozess los, spricht von „Betrug“ und dass ihm der Sieg gestohlen werden solle. In einer ganzen Reihe von Bundesstaaten hat sein Team schon Klagen eingereicht, um die Auszählungen zu stoppen oder um erneut auszählen zu lassen. Sein ältester Sohn Donald jr. ruft via Twitter sogar zum „totalen Krieg“ auf, um „all den Betrug, das Schummeln (…) offenzulegen“.
Im Anti-Trump-Lager wächst die Wut über solche Aussagen. „Wir weigern uns, ein faschistisches Amerika zu akzeptieren“, sagt Emma Kaplan. Trump zettele einen „schleichenden Staatsstreich“ an, „um die Wahl zu stehlen“, und das ist rechtswidrig“. Sie ist vor dem Wahlzentrum in Philadelphia, damit wirklich alle Stimmen ausgezählt werden. Eine andere Trump-Gegnerin ist so erzürnt, dass sie einem Unterstützer des Präsidenten den Stinkefinger zeigt. „Satanistin“, schreit der zurück.
Auch im Lager der Republikaner im US-Senat ist die Stimmung aufgeheizt. „Ich sage Ihnen, der Präsident ist wütend und ich bin wütend und die Wähler sollten wütend sein“, verbreitet Senator Ted Cruz im Sender Fox News. Er behauptet, die Justiz in Pennsylvania habe angeordnet, so lange auszuzählen, „bis Biden gewinnt“ – was schlicht gelogen ist. Und mit Blick auf die Wahlzentren fügt er hinzu: „Wir müssen da jetzt reingehen.“
Trump-Gegner alarmieren solche Aussagen. Die Hochschullehrerin Melissa Dunphy, die in Philadelphia mit der Organisation „Zählt jede Stimme“ demonstriert, ist höchst besorgt: „Ich bin hier, weil die amerikanische Demokratie in Gefahr ist.“ Die Regierung habe „frech“ angekündigt, dass sie die tatsächlichen Wahlergebnisse ignorieren werde, sagt die 40-Jährige. Trump und seine Verbündeten wollten dem „echten Sieger“ Biden seinen Wahlerfolg „stehlen“.
Selbst im Lager der Republikaner gibt es vereinzelt Kritik an Trumps „One-Man-Show“, wie es Bundesaußenminister Heiko Maas nennt. Der langjährige Berater von Ex-Präsident George W. Bush, Karl Rove, zum Beispiel, hält mit seinem Unverständnis nicht hinterm Berg. Der einst als erzkonservativer Strippenzieher berüchtigte Rove schreibt in seinem Blog zum Vorwurf des Wahlbetrugs, dass es bei Wahlen zwar immer irgendwelche unlauteren Machenschaften gebe. Aber: „Um hunderttausende Stimmen zu stehlen, wäre ein Komplott von einem solchen Ausmaß nötig, dass es eines James-Bond-Films würdig wäre. Das wird es nicht geben.“