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Grüner Provokateur und Musterknabe aus Tübingen: Boris Palmer gilt als Corona- und Klimavorreiter

Grüner Provokateur und Musterknabe aus Tübingen: Boris Palmer gilt als Corona- und Klimavorreiter

Boris Palmer - Bild: Gudrun de Maddalena

Tübingen in den „Tagesthemen“, Boris Palmer zeitgleich bei „Maybrit Illner“ – mit seinem eigenen Corona-Konzept hat sich Deutschlands wohl bekanntester Oberbürgermeister einmal mehr in die bundespolitische Debatte eingemischt. Mit eigenen Rentnertaxen statt öffentlichem Nahverkehr, kostenlosen Schnelltests und FFP2-Masken für die über 65-Jährigen schützt der Grünen-Politiker effektiv die besonders durch das Coronavirus Gefährdeten. 

Die Zahlen sprechen für das Tübinger Konzept. Der ganze Landkreis liegt mit einer Sieben-Tage-Inzidenz von 131 unter dem Landesdurchschnitt in Baden-Württemberg. Vor allem aber ist der Tübinger Oberbürgermeister stolz darauf, dass es in seiner Stadt mit 50.000 Einwohnern in den vergangenen Wochen keine Corona-Todesfälle und nur eine Erkrankung bei den über 65-Jährigen gab.

Palmer tat sich seit Beginn der Krise als Kritiker der Lockdown-Maßnahmen von Bund und Ländern hervor. Im Frühjahr äußerte er Sympathien für das umstrittene schwedische Modell, setzte also auf Freiwilligkeit und sprach sich für eine möglichst strikte Isolation der vulnerablen Gruppen aus. Gleichzeitig plädierte er dafür, den Datenschutz aufzuweichen, um eine effiziente Kontaktnachverfolgung via Corona-App möglich zu machen.

Im Frühjahr provozierte Palmer in einem Interview mit der Aussage: „Ich sag es Ihnen mal ganz brutal: Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einen halben Jahr sowieso tot wären, auf Grund ihres Alters und ihrer Vorerkrankungen.“ Für diesen kalten Utilitarismus tadelte ihn auch Baden-Württembergs Grünen-Ministerpräsident Winfried Kretschmann, als dessen politischer Weggefährte Palmer gilt.

Ganz gegen seine Gewohnheit entschuldigte sich der Tübinger Bürgermeister später dafür. Doch die Provokation hat System bei Palmer – und sie liegt auch in seiner Familie, wie er selbst angibt. Er wurde als Sohn des Obstbauern Helmut Palmer geboren, der in Baden-Württemberg als politischer Provokateur auch den Spitznamen „Remstal-Rebell“ trug und 289 Mal erfolglos bei Bürgermeisterwahlen antrat.

Sein Sohn Boris machte an einer Waldorfschule Abitur, studierte dann Mathematik und Geschichte, war Landtagsabgeordneter. Er machte sich 2010 bundesweit einen Namen, als er beim runden Tisch zum umstrittenen Bahnhofsprojekt „Stuttgart 21“ auf Seiten der Gegner die Bahnvertreter immer wieder in Erklärungsnöte brachte. 2007 gewann er als erster Grüner die Wahl zum Oberbürgermeister in Tübingen und wurde 2014 wiedergewählt.

Mit seiner provokanten Art macht es Boris Palmer sich und den Grünen schwer. So setzte er bei der Flüchtlingskrise der Aussage der Kanzlerin ein trotziges „Wir schaffen das nicht“ entgegen. Bei Facebook, wo ihm über 50.000 Menschen folgen, veröffentlicht er mitunter Fotos von mutmaßlichen Asylbewerbern, von denen er annimmt, dass sie schwarzfahren.

Oder Palmer fordert nach eine Welle von Vergewaltigungen in seiner Stadt, alle männlichen Bewohner einer Flüchtlingsunterkunft zur DNA-Probe zu zwingen. Auch seine Kritik an der Werbung der Deutschen Bahn, zu viele Menschen mit offensichtlichem Migrationshintergrund abzubilden, wird nicht nur von Parteifreunden als rassistisch empfunden. 

Nach seinen umstrittenen Äußerungen zu Corona folgten ein weiteres Mal Forderungen von Grünen, ihn aus der Partei auszuschließen. Dazu kam es nicht, aber die Bundespartei versagt ihm seitdem jede politische Unterstützung.

Andererseits machte Palmer aus Tübingen eine grüne Vorzeigekommune. Er verbot Ölheizungen, führte kostenlose Wasserstoffbusse ein und legte ein ambitioniertes Klimaprogramm auf. Außerdem gilt er immer noch als politisches Ausnahmetalent seiner Partei.

Mit seinen zahlreichen Auftritten in politischen Talkshows wurde der kantige Grüne zu Deutschlands bekanntestem Oberbürgermeister – ein Amt, das er auch 2022 wieder anstrebt. Ob ihn die Tübinger Grünen dann unterstützen, lässt die Partei vor Ort im Moment ausdrücklich offen. Palmer dagegen sagt: „Die Grünen sind meine politische Heimat.“

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