Die Unabhängigkeit Schottlands ist ihr großer Lebenstraum: Nach dem Wahlsieg ihrer Schottischen Nationalpartei (SNP) und mit ihrer Parlamentsmehrheit im Rücken will die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon den britischen Premierminister Boris Johnson nun dazu bringen, ein neues Unabhängigkeitsreferendum zuzulassen. Nach dem Austritt aus dem Vereinigten Königreich soll Schottland nach ihrer Vorstellung dann als eigenständiger Staat der EU beitreten.
2014 hatten die Schotten in einem Referendum noch Nein zur Unabhängigkeit gesagt. Aber nach dem Brexit, den die Schotten mehrheitlich abgelehnt hatten, setzte Schottlands Erste Ministerin die Frage wieder ganz oben auf ihre politische Agenda. Die Regionalwahl am Donnerstag erklärten die Unabhängigkeitsbefürworter um Sturgeon dabei zur „Schicksalswahl“.
Ihr Ziel einer absoluten Mehrheit hat die SNP zwar verpasst. Zusammen mit den Grünen gebe es im neuen schottischen Parlament aber eindeutig „eine Mehrheit für die Unabhängigkeit“, sagte Sturgeon in ihrer Siegesrede am Samstagabend. Johnson dürfe sich dem „Willen des schottischen Volkes“ nach einem neuen Referendum daher nicht mehr entgegenstellen – dafür gebe es“keine demokratische Rechtfertigung“ mehr.
Das Problem: Die Regierung in London müsste einem erneuten Referendum zustimmen, damit es rechtens wäre. Johnson lehnt ein Referendum aber strikt ab und erklärte nach der Wahl, den Menschen im Vereinigten Königreich und insbesondere auch in Schottland sei „am besten gedient, wenn wir zusammenarbeiten“.
Vor einem zweiten Referendum und dem ersehnten EU-Beitritt stehen aber noch weitere Hürden. In den Umfragen in Schottland gibt es auch nach dem Brexit kein eindeutiges Ja zur Unabhängigkeit. Und selbst wenn die Schotten ihre Unabhängigkeit erklären sollten – EU-Staaten wie Spanien, die selbst mit Unabhängigkeitsbewegungen wie in Katalonien konfrontiert sind, würden erbitterten Widerstand gegen deren Beitritt zur Europäischen Union leisten, damit das Beispiel der Schotten nicht Schule macht.
Auf Sturgeon, die bei den schottischen Wählern auch mit ihrem Krisenmanagement in der Corona-Pandemie gepunktet hat, wartet also noch viel harte Arbeit. Die 50-jährige Vollblutpolitikerin, die als ausdauernd und durchsetzungsstark gilt und mit ihrer klaren und berechenbaren Art wie ein Gegenentwurf zum sprunghaften Johnson wirkt, dürfte das nicht abschrecken.
Sturgeon kam 1970 als Tochter eines Elektrikers in der Industriestadt Irvine südwestlich von Glasgow zur Welt. Mit 16 Jahren trat sie der SNP bei – politisiert durch die für das Arbeitermilieu besonders harten Jahre unter der britischen Premierministerin Margaret Thatcher. Die hohe Arbeitslosigkeit damals gab Sturgeon nach eigener Aussage „ein starkes Gefühl für soziale Gerechtigkeit“ und den Antrieb, in die Politik zu gehen.
Sturgeon studierte Jura an der Universität Glasgow und kandidierte 1992 mit 21 Jahren erfolglos bei der britischen Unterhauswahl. Nach mehreren Jahren als Rechtsanwältin zog sie 1999 als eine der ersten Abgeordneten ins neu gegründete schottische Regionalparlament ein.
Sturgeon erarbeitete sich schnell einen Ruf als ehrgeiziger Workaholic. „Ihr Telefon ist nie ausgeschaltet, das können viele in der Familie bezeugen“, sagte ihr Mutter Joan einmal. 2010 heiratete Sturgeon den SNP-Politiker Peter Murrell, der inzwischen Generalsekretär der Partei ist.
Nach dem Nein beim Referendum 2014 übernahm die ehrgeizige Juristin den SNP-Vorsitz von Alex Salmond und beerbte ihn auch als Erste Ministerin. Mit ihrem einstigen Mentor hat sie sich inzwischen überworfen. Ein Streit um Vorwürfe der sexuellen Belästigung gegen Salmond belastete auch den Wahlkampf. Den Machtkampf mit Salmond hat Sturgeon klargewonnen: Seine neu gegründete Partei Alba gewann bei der Regionalwahl keinen einzigen Sitz.