Der Vormarsch der radikalislamischen Taliban in Afghanistan beschäftigt auch die dort stationierte Bundeswehr. „Wir verfolgen die Präsenz und die Entwicklung sehr genau,“ sagte ein Sprecher des Einsatzführungskommandos in Potsdam am Dienstag der Nachrichtenagentur AFP. Das Bundeswehr-Lager bei Masar-i-Scharif sei „bislang jedenfalls nicht betroffen“. Die Taliban eroberten derweil den wichtigsten Grenzposten zu Tadschikistan. Die UNO zeigte sich besorgt angesichts der Gebietsgewinne der Taliban. Die US-Regierung erwägt inzwischen einen langsameren Abzug aus dem Land.
Die Taliban rücken derzeit in Nordafghanistan vor, wo auch die Bundeswehr lange für die Stabilisierung zuständig war. Taliban-Kämpfer umstellten bereits am Montag die strategisch wichtige Stadt Kundus. Nach Angaben eines Mitglieds des Provinzrates von Kundus blockierten die Aufständischen wichtige Verbindungsstraßen in die Nachbarprovinzen.
Am Dienstag brachten sie den wichtigsten Grenzposten zu Tadschikistan ganz im Norden der Provinz Kundus unter ihre Kontrolle. Die Islamisten hätten alle Grenzposten, den Hafen und die Stadt von Schir Chan Bandar eingenommen, sagte der Ratsabgeordnete der Provinz Kundus, Chaliddin Hakmi, der Nachrichtenagentur AFP. Nach Angaben eines Offiziers mussten die afghanischen Soldaten all ihre Posten aufgeben und „einige unserer Soldaten haben die Grenze nach Tadschikistan überquert“.
Ein Sprecher der Taliban bestätigte die Einnahme des Grenzpostens. Es ist die bedeutsamste Eroberung der Miliz, seitdem sie ihre Kämpfe parallel zum beginnenden US-Abzug Anfang Mai intensiviert haben.
Westlich von Kundus liegt Masar-i-Scharif, wo im Camp Marmal derzeit noch knapp 1000 Bundeswehr-Soldaten stationiert sind. „Wir sind auf alles vorbereitet“, sagte der Sprecher des Einsatzführungskommandos. Zugleich betonte er: „Am Zeitplan für den Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan hat sich nichts geändert.“
Zuvor hatte Pentagon-Sprecher John Kirby einen verzögerten Abzug aus Afghanistan ins Gespräch gebracht. Das Verteidigungsministerium habe die Lage vor Ort ständig im Blick und sei bereit, flexibel darauf zu reagieren. Derzeit gebe es zu viel Gewalt. Die USA bewahrten sich deshalb „Flexibilität“, sollten Änderungen am Tempo oder am Umfang des Abzugs nötig sein, sagte Kirby.
Der Abzug der US-Truppen soll nach den Plänen von Präsident Joe Biden bis spätestens 11. September abgeschlossen sein. Auch die übrigen Nato-Truppen sollen bis dahin aus Afghanistan abgezogen sein.
Nach Pentagon-Angaben ist der US-Abzug derzeit etwa zur Hälfte abgeschlossen. Die US-Armee hat bereits mehrere Stützpunkte an die afghanische Armee übergeben. Noch seien die US-Truppen aber in der Lage, die einheimischen Sicherheitskräfte zu unterstützen, sagte Kirby.
Auch die Bundeswehr hat inzwischen mit dem Abzug ihrer zuletzt 1100 Soldaten in Afghanistan begonnen. Ende April war bereits der von der Bundeswehr genutzte Bereich im Camp Pamir in Kundus an die afghanischen Streitkräfte übergeben worden. Danach folgten die Liegenschaften innerhalb des afghanischen Camps Shaheen in der Provinz Balkh.
Die UN-Sondergesandte Deborah Lyons äußerte sich besorgt über die Gebietsgewinne der radikalislamischen Gruppe. „Alle wichtigen Entwicklungen – Politik, Sicherheit, der Friedensprozess, die Wirtschaft, die humanitäre Notlage und Corona – alle diese Entwicklungen sind negativ oder stagnieren“, sagte Lyons in einer Videokonferenz vor dem UN-Sicherheitsrat.
Die Islamisten hätten inzwischen mehr als 50 der 370 Bezirke des Landes eingenommen, vor allem rund um die Provinzhauptstädte. Dies deute darauf hin, dass die Taliban „sich für den Versuch in Position bringen, diese Hauptstädte einzunehmen, sobald die ausländischen Truppen vollständig abgezogen sind“, sagte Lyons.
Die US-Botschafterin bei der UNO, Linda Thomas-Greenfield, erklärte bei der Videokonferenz, die Welt werde nicht hinnehmen, dass die Taliban die Kontrolle über Kabul und die afghanische Regierung übernehmen. „Die Welt wird weder die Einsetzung einer gewaltsam durchgesetzten Regierung in Afghanistan noch die Wiederherstellung des Islamischen Emirats anerkennen.“