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OSZE-Generalsekretärin Schmid im Interview: „Wir haben derzeit sehr schwierige Diskussionen – die Gräben sind tief“

OSZE-Generalsekretärin Schmid im Interview: „Wir haben derzeit sehr schwierige Diskussionen – die Gräben sind tief“

Helga Maria Schmid - Bild: OSCE/Renaud Cuny

Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine markiert eine Zeitenwende in der europäischen Geschichte. Zugleich offenbart er die Ohnmacht multilateraler Organisationen gegenüber autoritär geführten Regimen. Eine Zeitenwende also auch für den Multilateralismus? Von der Forderung nach einem Ausschluss Russlands aus der OSZE hält die 61-jährige Spitzendiplomatin, Helga Maria Schmid, indes nichts: „Die OSZE ist qua Definition eine inklusive Organisation.“

Frau Schmid, die OSZE setzt sich für Stabilität, Frieden aber auch Demokratie ein. Daher unsere erste Frage an Sie: Welchen Stellenwert haben Demokratie und demokratische Werte für Sie ganz persönlich?

Ich hatte das Glück, in einer lebendigen Demokratie aufzuwachsen – und das in einem Land, das die dramatischen Folgen von Totalitarismus für die eigene Bevölkerung wie für Nachbarländer nur allzu gut kennt.

Meine Studienzeit und die Anfänge meiner beruflichen Laufbahn waren von den großen Veränderungen der späten 80er und frühen 90er Jahre in Deutschland geprägt. Die Werte, die mir in dieser Zeit vermittelt wurden, prägen mich meine ganze berufliche Laufbahn lang: als Diplomatin im Auswärtigen Amt, im Europäischen Auswärtigen Dienst und heute in der OSZE.

Dabei hatte ich schon früh Kontakt mit der OSZE – angefangen mit dem Gipfel von Paris 1990, an dem ich als junge Diplomatin teilnahm. Ich erinnere mich gut an die Aufbruchsstimmung, die damals in der Luft lag. All das erscheint heute wie eine weit entfernte Erinnerung.

Mich hat aber schon damals das umfassende Sicherheitsverständnis der OSZE inspiriert. Es geht weit über die traditionellen militärischen Aspekte hinaus. Denn Sicherheit ist immer auch abhängig von wirtschaftlichen und ökologischen Faktoren, sowie dem Respekt der Grundwerte und Menschenrechte.

Nachhaltige Sicherheit ist eben nur in einer Gesellschaft möglich, die Menschenrechte achtet und auf demokratischen Institutionen fußt – davon bin ich zutiefst überzeugt.

Die europäische Sicherheitsarchitektur steht seit dem Russland-Ukraine-Konflikt vor neuen Herausforderungen. Wie ist der Status quo und inwieweit werden sich die Sicherheitsmechanismen in Europa zukünftig verändern?

Der aggressive Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, der am 24. Februar begann, markiert eine Zeitenwende. Er hat uns alle zutiefst schockiert. Aber er sollte nicht unser Engagement für internationale Organisationen schwächen. Es war nicht der Multilateralismus, der am 24. Februar gescheitert ist. Es war allein die unilaterale Entscheidung der Führung Russlands, einen anderen souveränen Staat, die Ukraine, anzugreifen und bewusst militärische Mittel anstatt von Diplomatie und Verhandlungen zu wählen.

Die OSZE ist bereit, zum gegebenen Zeitpunkt ihren Beitrag zu leisten. Wir sind die einzige Sicherheitsorganisation, die alle an einen Tisch bringt. Genau hierfür wurde die OSZE – oder die KSZE, wie sie früher hieß – im Kalten Krieg gegründet. Und die OSZE hat bereits bewiesen, dass wir bei Bedarf schnell handeln können – wenn der politische Wille dazu vorhanden ist.

Die Helsinki Schlussakte von 1975 ist und bleibt dabei unser gemeinsames Fundament. Die darin enthaltenen Prinzipien und Verpflichtungen, wie etwa die „Territoriale Integrität der Staaten“, die „Friedliche Regelung von Konflikten“ oder die „Achtung von Menschenrechten und Grundfreiheiten“, sind nicht verhandelbar.

Vor dem Hintergrund der fragilen Sicherheitslage in Europa stellt sich die Frage, welchen Beitrag zur Krisenprävention und Konfliktlösung Ihre Organisation leisten kann. Anders gefragt: Warum brauchen wir die OSZE?

Derzeit ist unser Augenmerk auf die Unterstützung der Ukraine und der vom Krieg betroffenen Nachbarländer gerichtet.

Denn die Arbeit der OSZE hört nicht auf, weil der Krieg begonnen hat. Ganz im Gegenteil. Wir brauchen jetzt starke, effektive internationale Organisationen mehr denn je. Dieser sinnlose Krieg hat verheerende Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung in der Ukraine und auf die gesamte Region.

Die OSZE befasst sich nun mit den dringendsten Bedürfnissen und leistet mit unseren langjährigen Partnern in der Ukraine dringend benötigte Hilfe. Unsere Arbeit reicht von der Unterstützung bei der humanitären Minenräumung über den Schutz der Medienfreiheit, etwa durch die Schulung von Journalisten für den Einsatz in einem Kriegsgebiet, bis hin zur Bekämpfung der ökologischen Auswirkungen des Krieges.

Wir sind auch aktiv in der Bekämpfung des Menschenhandels. Millionen Menschen mussten seit Beginn des Krieges ihre Heimat verlassen, die meisten von ihnen sind Frauen und Kinder. Sie sind einem hohen Risiko ausgesetzt Opfer von Menschenhandel zu werden. Um zum Schutz der am meisten gefährdeten Menschen beizutragen, hat die OSZE klare politische Empfehlungen erarbeitet und arbeitet eng mit den Nachbarstaaten der Ukraine zusammen, um die betroffenen Menschen zu schützen.

Auch wenn unsere Aufmerksamkeit derzeit vor allem der Ukraine gilt, arbeiten wir weiterhin in der gesamten OSZE-Region. Zum einen leiden auch Zentralasien und Südosteuropa ganz konkret unter den Folgen des Krieges. Zum anderen sind unsere Feldmissionen seit vielen Jahren vor Ort und unterstützen Regierungen und Zivilgesellschaft mit Rat und Tat – von der Vernichtung von Kleinwaffen bis zur Eindämmung der Korruption, bei der umweltverträglichen, gemeinsamen Nutzung von natürlichen Ressourcen bis zur Hilfe bei der Stärkung demokratischer Strukturen. Diese Arbeit setzt die OSZE fort.

Die Gründung der OSZE geht auf die Hochphase der Entspannungspolitik zwischen Ost und West Anfang der 1970er zurück. Ist die OSZE noch zeitgemäß? Inwieweit wird sich ihre strategische Ausrichtung verändern müssen?

Die OSZE hat seit jeher Brücken gebaut zwischen Ost und West. Mit der Schlussakte von Helsinki 1975 oder der Charta von Paris im Jahr 1990. Und auch in jüngster Vergangenheit waren noch wichtige Fortschritte möglich. Beim Ministerrat im Dezember 2021 verabschiedeten die OSZE-Staaten zum Beispiel einstimmig eine Erklärung zum Klimawandel, auf deren Basis wir weitreichende Projekte der regionalen Zusammenarbeit umsetzen können.

Die Suche nach einem gemeinsamen Nenner war nie einfach. Und ich erwarte nicht, dass sie künftig einfacher wird. Denn nach dem 24. Februar sind die Gräben und das Misstrauen natürlich größer denn je.

Aber es gibt nach wie vor Themen, bei denen wir zusammenarbeiten müssen. Der Kampf gegen den Klimawandel ist ein gutes Beispiel. Der menschengemachte Klimawandel macht nicht an Staatsgrenzen halt und hat schon heute ernste Konsequenzen. Künftige Generationen werden ihn noch viel stärker spüren, es ist daher unsere Verantwortung gemeinsame Lösungen zu finden. Die OSZE ist dabei ein wichtiger Partner – wir bieten nicht nur Plattformen für einen politischen Austausch an, sondern auch konkrete Projekte, von Südosteuropa, über Osteuropa und den Südkaukasus bis nach Zentralasien.

Wir müssen dafür die Formate nutzen, die wir haben: die Botschafter der 57 OSZE-Staaten treffen sich jeden Donnerstag, der Krieg und seine Auswirkungen sind immer auf der Agenda. Es gibt auch themenspezifische Dialogformate für Umwelt- und Wirtschaftsthemen oder für die menschliche Dimension der Sicherheit, wie Menschenrechte oder Demokratieförderung. Und es ist generell wichtig, die diplomatischen Kanäle offen zu halten. Das ist ein Alleinstellungsmerkmal der OSZE.

Daher müssen wir die OSZE als inklusive Organisation bewahren. Aus meiner Sicht ist klar, dass die OSZE mit ihren 57 Teilnehmerstaaten aus Zentralasien, Nordamerika und Europa, gerade wegen ihrer inklusiven Mitgliedschaft und des umfassenden Sicherheitsansatzes künftig eine noch größere Rolle spielen wird.

Bereits vor Ihrer Wahl zur OSZE-Generalsekretärin galten Sie – auch hinsichtlich des Atomabkommens mit Iran – als herausragende Diplomatin. Brauchen wir wieder mehr Dialog? Haben wir Diplomatie verlernt?

Die Atomvereinbarung mit dem Iran (JCPOA) ist ohne Frage ein großer Erfolg der multilateralen Diplomatie. Um dort anzukommen, brauchte es einen langen Prozess der Vertrauensbildung, aber auch Dialog- und Kompromissbereitschaft von allen Seiten. Das Abkommen hat in jedem Fall die Welt sicherer gemacht und eine Gefahrenquelle von unkontrollierbarer atomarer Verbreitung ausgemerzt.

Ein anderer wichtiger Faktor in den Verhandlungen spielte die Europäische Union, da keines der beteiligten Länder als ehrlicher Makler akzeptiert worden wäre. Und das ist ein weiterer Beweis dafür, dass wir internationale und multilaterale Organisationen brauchen.

Gerade weil in der OSZE viele Staaten von Ost und West gemeinsam und gleichberechtigt am Tisch sitzen, ist die Organisation ein so gutes Forum – und das schon seit bald 50 Jahren. Natürlich sind die Debatten nicht immer einhellig, sondern ganz im Gegenteil, bei Zeiten konfrontativ und scharf im Ton.

Das liegt daran, dass die OSZE Staaten an einen Tisch bringt, die gerade nicht nur gemeinsame Interessen und Werte haben: manche haben offene Grenzfragen zu überwinden, andere beäugen sich seit Jahrzehnten – und oft aus historischen Gründen – mit Misstrauen. Aber gerade dafür brauchen wir eine Organisation wie die OSZE, in der auch Staaten zusammenkommen, deren bilateralen Beziehungen eben nicht frei von Herausforderungen sind. Und die OSZE bietet eine Fülle von Instrumenten und Mechanismen, mit denen wir Vertrauen und regionale Kooperation stärken. Erforderlich ist aber der politische Wille sie auch zu nutzen.

Seit dem 24. Februar 2022 hinterfragen manche Stimmen auch, ob Russland weiterhin Teil der OSZE sein sollte. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine – unprovoziert und durch nichts zu rechtfertigen – hat in der europäischen Geschichte ein neues Kapitel aufgeschlagen. Auch in der OSZE konnten wir die Ukraine in dieser schwierigen Zeit unterstützen, wie ich eben schon ausgeführt habe.

Aber Russland nun aus der Organisation auszuschließen würde keine Abhilfe schaffen. Auch wenn es am Ende eine Entscheidung der Staaten ist und nicht meine, als Generalsekretärin, möchte ich doch sagen: die Gründer der OSZE haben aus gutem Grund keinen Austrittsmechanismus vorgesehen. Die OSZE ist qua Definition eine inklusive Organisation. Dialog heißt nicht, dass wir die Augen verschließen vor Völkerrechtsverletzungen. Ganz im Gegenteil, die OSZE war die erste internationale Organisation, die in der Ukraine Augenzeugenberichte dokumentiert hat. Aus dem Kalten Krieg geboren ist die OSZE keine Schönwetterorganisation. Wir haben derzeit sehr schwierige Diskussionen, die Gräben sind tief. Aber in der Zukunft werden die einzigartigen Instrumente der OSZE, der umfassende Sicherheitsansatz und die Tatsache, dass Russland und Amerika, Europa und Zentralasien an einem Tisch sitzen, wegweisend sein.

Frau Schmid, unsere letzte Frage ist immer eine persönliche: Über Ihr Privatleben ist wenig bekannt. Keine Sorge – das möchten wir nicht ändern. Dennoch interessiert uns: Was machen Sie in Ihrer Freizeit am liebsten?

Wie Sie sich vorstellen können, hatte ich in den letzten Monaten nur sehr wenig freie Zeit. Es gibt jedoch nichts Besseres als die Natur, um abzuschalten und neue Energie zu tanken. Ein Tag in den Bergen, gefolgt von einem guten Buch und einem Glas Wein, ist kaum zu übertreffen. Und hier in Wien haben wir das Glück, beides genießen zu können: die herrliche Landschaft und den guten Wein.

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