Website-Icon Nürnberger Blatt

Vor 100 Jahren wurde er geboren: Marcel Reich-Ranicki

Vor 100 Jahren wurde er geboren: Marcel Reich-Ranicki

Marcel Reich-Ranicki kam 1920 im jetzigen Polen als Marceli Reich zur Welt. - imago images/teutopress

Das R – das rollende, grollende Rrr. Sein Markenzeichen. Zugleich lispelte Marcel Reich-Ranicki das S. Beides ergab einen unverwechselbaren Sprachklang, der sich – im Zusammenspiel mit seiner Körpersprache – zu einem Ereignis auswachsen konnte. Wenn er dann mal wieder in glänzend gespielter Hilflosigkeit die Hände über den Kopf hob und ansetzte: „Also, mein Lieber“, dann konnte sich sein Gegenüber auf ein verbales Gewitter gefasst machen, Gegenrede zwecklos. Dafür wurde er von seinem Publikum geliebt.

Am 2. Juni wäre der 2013 verstorbene Literaturpapst, wie ihn alle Welt nannte, 100 Jahre alt geworden. Dass ausgerechnet ein Literaturkritiker eine Popularität wie ein Popstar erlangte, ist seinem Darstellungstalent und scharfzüngigen Temperament zu verdanken. Fast jeder Deutsche kannte seinen Namen, denn er hatte der Langeweile einen bedingungslosen Kampf angesagt, vor allem in seiner TV-Sendung „Das literarische Quartett“ (ZDF, 1988-2001), wo er Neuerscheinungen von Büchern beurteilte.

Hier gibt es das Buch „Meine Geschichte der deutschen Literatur: Vom Mittelalter bis zur Gegenwart“ von Marcel Reich-Ranicki

Seine Eltern und sein Bruder wurden ermordet

Marcel Reich-Ranicki wurde 1920 in Wloclawek an der Weichsel in eine jüdische deutsch-polnische Familie geboren. Das Gymnasium besuchte er in Berlin, nach dem Abitur wurde er von den Nazi-Behörden zurück nach Polen geschickt, studieren durfte er nicht. Beide Eltern, Helene und David Reich, wurden später im KZ Treblinka ermordet, den älteren Bruder Alexander Reich erschossen die Nazis in einem Arbeitslager.

Über das monströse Phänomen Adolf Hitler sagte er später einmal: „Soll man ihn etwa als Elefant oder Kamel zeigen?!“ Natürlich sei Hitler nur ein Mensch gewesen, was denn sonst? Das mache es so schwer, die Geschichte zu begreifen: „Nichts konnte der, nicht einmal Auto fahren. Nur schwafeln.“ Der junge Marcel Reich heiratete im Ghetto von Warschau seine Freundin Teofila Langnas. Nach der Flucht fand das Ehepaar bis Ende 1944 Unterschlupf bei einem Schriftsetzer. Nach Kriegsende ging er für den Auslandsgeheimdienst nach London. Dort nannte er sich erstmals Marcel Ranicki, weil Reich zu Deutsch klang.

1958 folgte die Übersiedlung nach Deutschland

Nach der Rückkehr nach Warschau arbeitete er als Lektor für deutsche Literatur und beim Rundfunk, hatte jedoch wegen „ideologischer Entfremdung“ Schwierigkeiten mit den kommunistischen Behörden. 1958 übersiedelte die Familie in die Bundesrepublik.

Günter Grass fragte ihn einmal während einer Tagung der „Gruppe 47“: „Was sind Sie denn nun eigentlich – ein Pole, ein Deutscher oder wie?“ Reich-Ranickis spontane Antwort: „Ich bin ein halber Pole, ein halber Deutscher und ein ganzer Jude.“ Ein halbes Jahrhundert später revidierte er seine Aussage in seiner Autobiografie „Mein Leben“. „Nie war ich ein halber Pole, nie ein halber Deutscher – und ich hatte keinen Zweifel, dass ich es nie werden würde. Ich war auch nie in meinem Leben ein ganzer Jude, ich bin es noch heute nicht.“

So wurde er zum Literaturpapst

Mit seinen Literaturkritiken für „Die Zeit“ und die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ sowie im ZDF und als Jury-Sprecher des Ingeborg-Bachmann-Preises wurde Reich-Ranicki der einflussreichste deutschsprachige Kritiker seiner Epoche. Gegen die Bezeichnung „Literaturpapst“ hat er sich nie ernsthaft gewehrt.

Der Autodidakt (kein Studium, aber neun Ehrendoktor-Titel und diverse Gast-Professuren) verehrte die Dichter Goethe, Schiller, Heinrich Heine und Bertold Brecht, schätzte die Prosa von Theodore Fontane, Franz Kafka, Thomas Mann, Wolfgang Koeppen und Thomas Bernhard. Ansonsten zeigte er keinerlei Respekt vor großen Namen, im Gegenteil. Selbst Literaturnobelpreisträger verschonte er nicht.

Über Elfriede Jelinek, Nobelpreis 2004, die er immerhin für „eine dolle Frau“ hielt, schrieb er: „Das literarische Talent der Elfriede Jelinek ist, um es vorsichtig auszudrücken, eher bescheiden. Ihre Dramen sind unaufführbar. Ein guter Roman ist ihr nie gelungen, beinahe alle sind mehr oder weniger banal oder oberflächlich.“ Der Roman „Ein weites Feld“ von Günter Grass, Nobelpreis 1999, sei „wertlose Prosa, langweilig und unlesbar. Keiner hat den Grass dazu aufgefordert, über die Wiedervereinigung zu schreiben. Mir wäre viel lieber, wenn Grass über die Liebe zu seiner Frau geschrieben hätte“.

John Updike hielt er zwar für nobelpreiswürdig, meinte aber: „Es gibt Kapitel, wo man unentwegt lesen muss: Wir werden ficken, wir haben gefickt, wir wollen ficken, wir wollen noch mal ficken. Das ist alles, mehr hat Updike nicht zu bieten. Manchmal kommt vögeln vor. Das ist eine Abwechslung und das sieht man dann mit Freude.“

Die ewige Fehde mit Martin Walser

Am liebsten arbeitete sich Reich-Ranicki an Martin Walser ab. Auszug: „Der schreibt seit 25 Jahren einen Roman nach dem anderen. Die meisten werden von der Kritik überwiegend negativ beurteilt, viele sind total vergessen. Und zu Recht. Dennoch: Er stolpert von einer Niederlage zur nächsten und ist unaufhörlich ein bekannter, ein eigentlich immer berühmter werdender Schriftsteller.“ Walser revanchierte sich mit dem Schlüsselroman „Tod eines Kritikers“.

Auch das Komitee für die Vergabe des Nobelpreises bekam sein Fett weg: „Das wissen wir ja, dass den Nobelpreis immer zweitrangige Autoren bekommen. Hat ihn Strindberg bekommen? Nein, Selma Lagerlöf. Hat ihn Brecht bekommen? Nein, Hermann Hesse. In Stockholm lieben sie nicht so sehr die hervorragende Ware. Grass wird ihn deshalb schon noch kriegen.“

Als Günter Grass dann tatsächlich Nobelpreisträger wurde, meinte Reich-Ranicki: „Stellen Sie sich vor: Martin Walser wäre der Preis zugefallen, das wäre ein schwerer Schlag für mich. Oder gar dem dümmlichen Peter Handke! Eine Katastrophe. In Stockholm ist allerlei möglich. Grass – immerhin!“

Für seinen letzten großen Skandal sorgte Reich-Ranicki 2008 beim Deutschen Fernsehpreis, bei dem er für sein Lebenswerk ausgezeichnet wurde: „Ich nehme diesen Preis nicht an!“ Anschließend rechnete er mit der gesamten TV-Landschaft gnadenlos ab und kanzelte alles als „Blödsinn“ ab. Aber so war er eben. Und er fehlt mit seiner einzigartigen Art. Bis heute.

Die mobile Version verlassen