Wissenschaftler sehen ein erhebliches Risiko für eine weitere politische Radikalisierung der Corona-Proteste. Dies geht aus einer am Mittwoch veröffentlichten Studie des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) zum Mobilisierungspotenzial der Proteste hervor. „Diejenigen, die Verständnis für die Proteste äußern, sind zugleich überdurchschnittlich offen für Verschwörungsideologien“, erklärte der Gründungsdirektor des Zentrums für Zivilgesellschaftsforschung am WZB, Edgar Grande.
Die Studie basiert auf einer Umfrage unter mehr als 5000 Menschen im Zeitraum zwischen Juni und November 2020. Sie gibt nach Angaben des Wissenschaftszentrums erstmals einen umfassenden Überblick darüber, in welchem Ausmaß und bei welchen gesellschaftlichen Gruppen die Proteste gegen die staatlichen Corona-Maßnahmen Anklang und Anhänger fanden. Damit liefert die Untersuchung empirisch verlässliche Aussagen über die tatsächliche Stärke der Proteste.
Die Ergebnisse zeigten laut WZB ein erhebliches und stabiles Mobilisierungspotenzial. Jeder zehnte Befragte war bereit, sich an Aktionen gegen die Corona-Politik zu beteiligen oder hatte dies bereits getan. Jeder fünfte Befragte äußerte großes oder sogar sehr großes Verständnis für die Proteste.
Dabei verorteten sich mehr als 60 Prozent der „Protestversteher“ in der politischen Mitte. Damit unterschieden sich diese Befragten kaum von jenen, die kein Verständnis für den Corona-Protest zeigten.
Als auffällig werteten es die Wissenschaftler allerdings, dass die extremen Ränder in der Gruppe der „Protestversteher“ deutlich stärker sind: 12,5 Prozent der Befragten verorteten sich selbst am extremen Rand des ideologischen Spektrums, der größere Teil davon (7,5 Prozent) am rechtsextremen Rand.
Im Durchschnitt würde der Umfrage zufolge ein Viertel der „Protestversteher“ die AfD wählen. Aber mehr als ein Drittel (knapp 35 Prozent) würde sich für keine der im Bundestag vertretenen Parteien entscheiden. Zusammengenommen bestanden im November 2020 zwei Drittel des Anti-Corona-Mobilisierungspotenzials aus Teilen dieser „vernachlässigten Mitte“ und aus Anhängern der AfD.
Dabei eint die „Protestversteher“ ein starkes Misstrauen gegenüber der Bundesregierung und die Sorge um Freiheitseinschränkungen. „Beides bildet die politische Basis der Corona-Proteste“, erläuterte Swen Hutter, Lichtenberg-Professor in politischer Soziologie an der Freien Universität Berlin und Stellvertretender Direktor des Zentrums für Zivilgesellschaftsforschung am WZB.
Mit der zunehmenden Bedeutung der sogenannten Querdenker im Corona-Protest fand der Studie zufolge im vergangenen Sommer ein Rechtsruck im Mobilisierungspotenzial statt. Während das Verständnis für den Protest in der radikalen Linken nach der ersten Protestwelle von 21,5 Prozent im Juni/Juli auf 8,2 Prozent im August zurückging, stieg die Zustimmung bei radikal rechts positionierten Befragten von gut 30 auf 40 Prozent.
Wegen der großen Bedeutung von Verschwörungstheorien messen die Forscher dem Corona-Protest auch ein erhebliches Radikalisierungspotenzial bei. Rund 15 Prozent der „Protestversteher“ glauben demnach uneingeschränkt der zentralen Verschwörungserzählung der Neuen Rechten vom angeblich geplanten „großen Austausch“ der Bevölkerungsmehrheit, 40 Prozent billigen ihr eine gewisse Glaubwürdigkeit zu. Dagegen schenkten fast 70 Prozent der Befragten mit wenig oder keinem Verständnis für die Proteste Verschwörungstheorien keinen Glauben.