Mit umfassenden Wirtschafts- und Finanzsanktionen will die EU den belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko weiter unter Druck setzen. Es gehe um die Frage, inwieweit es Belarus künftig „erlaubt sein soll, die Emittierungen von Staatsanleihen“ in Europa vorzunehmen, sagte Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) am Donnerstag nach Beratungen mit seinen EU-Kollegen in Lissabon. Laut Journalistenverbänden ist die Lage von Reportern in Belarus „katastrophal“.
Auf dem Tisch liegen laut Maas auch Sanktionen gegen Unternehmen aus dem „Kali- und Phosphatbereich“ sowie Strafmaßnahmen für Verantwortliche gegen die erzwungene Zwischenlandung eines Ryanair-Flugzeugs in Minsk am vergangenen Sonntag und der darauf folgenden Festnahme des im Exil lebenden belarussischen Journalisten Roman Protassewitsch und seiner Freundin Sofia Sapega.
Wegen des Ryanair-Vorfalls hatten die EU-Staats- und Regierungschefs bei ihrem Gipfel am Montag die Sperrung des europäischen Luftraums für Flugzeuge aus Belarus und ein Landeverbot auf EU-Flughäfen vereinbart. Zudem wurden die EU-Außenminister aufgefordert, neben Sanktionen gegen Verantwortliche auch Wirtschaftssanktionen zu beschließen. Luxemburgs Ressortchef Jean Asselborn ging in Lissabon davon aus, dass dies bis zum nächsten Treffen der EU-Außenminister am 21. Juni erfolgen könne.
Die erzwungene Flugzeug-Umleitung und die Festnahme Protassewitschs verurteilten am Donnerstag auch die Außenminister der G7-Staaten „aufs Schärfste“. Das Vorgehen der belarussischen Behörden habe die Sicherheit „aller Passagiere und Besatzungsmitglieder“ des Ryanair-Flugs gefährdet, erklärten die Minister, die zudem einen „schwerwiegenden Angriff auf die Medien- und Pressefreiheit“ anprangerten. Protassewitsch sowie alle anderen Journalisten und politischen Gefangenen in Belarus müssten „umgehend und bedingungslos“ freigelassen werden.
Einen „wirtschaftlichen Boykott des Regimes“ in Belarus forderte am Donnerstag die im litauischen Exil lebende belarussische Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja.
Maas attestierte Lukaschenko „terroristische Züge“. Das Verhalten des belarussischen Machthabers sei „vollkommen inakzeptabel“. Ohne ein Einlenken Lukaschenkos würden die Strafmaßnahmen gegen Verantwortliche für die Umleitung der Ryanair-Maschine nur „der Beginn einer großen und langen Sanktionsspirale sein“, warnte er.
Die EU müsse „Maßnahmen ergreifen, deren Gewicht Lukaschenko zu spüren bekommt“, betonte auch der EU-Außenbeauftragte Borrell. In einem Interview mit der Nachrichtenagentur AFP brachte Borrell auch eine Umleitung von Gasexporten aus Russland in die EU ins Spiel. „Belarus würde die Durchleitungsentgelte verlieren, was nicht unerheblich ist“, sagte Borrell.
Maas wiederum bezeichnete die Frage des Verzichts der EU auf die Durchleitung von Gas aus Russland über belarussische Pipelines als eher „mittel- und langfristiges Thema“. Ausschließen wolle er derzeit aber „überhaupt nichts mehr“.
Österreichs Außenminister Alexander Schallenberg und sein litauischer Kollege Gabrielius Landsbergis betonten in Lissabon, das Ziel der Sanktionen müsse es sein, die Wirtschaftsinteressen der Regierung zu treffen und nicht die belarussische Bevölkerung.
Nach Berichten von Journalisten-Verbänden hat sich die Situation von Medienschaffenden in Belarus seit der von massiven Betrugsvorwürfen überschatteten Präsidentschaftswahl 2020 und den darauffolgenden Massenprotesten dramatisch verschlechtert. Es sei wichtig, weiter nach Mitteln zu suchen, wie belarussische Journalisten künftig „wirksam unterstützt“ werden könnten, sagte der Chef von Reporter ohne Grenzen (RSF), Christophe Deloire, bei einem Besuch in Litauen. Dort reichte die Organisation wegen des Ryanair-Vorfalls Klage gegen Lukaschenko ein.
Die Erbin der größten unabhängigen Nachrichtenseite Tut.by, Jewgenija Tschernjawskaja, erklärte, das harte Vorgehen gegen Medien und die Opposition in Belarus gefährde die Meinungsfreiheit und bedrohe Leben. „Niemand ist gerade sicher in Belarus – besonders Journalisten nicht“, sagte sie. Tut.by wird seit zehn Tagen von den Behörden blockiert.
Protassewitschs Eltern erneuerten am Donnerstag ihren Ruf nach Hilfe im Ringen um die Freilassung ihres Sohnes. „Ich bitte, ich bettle, bitte helfen Sie mir, meinen Sohn zu befreien“, sagte seine Mutter Natalja vor Journalisten in Warschau. Protassewitschs Vater Dmitri nannte seinen Sohn einen „starken Mann“ und einen „Helden“. Der 26-jährige Journalist habe sein ganzes Leben lang „für die Wahrheit gekämpft und sie an die Menschen weitergegeben“. Dies sei der Grund, „warum Lukaschenko diesen abscheulichen Akt begangen“ habe.