Auch wenn das grassierende Coronavirus „SARS-CoV-2“ meist nur milde Atembeschwerden hervorruft, so verläuft die „COVID-19″-Erkrankung doch bei etwa fünf Prozent der Betroffenen so schwer, dass es zu einem Lungenversagen kommen kann. „Die Sterblichkeit ist in diesen Fällen hoch“, sagt Dr. Thomas Wiesmann, der die Patientin gemeinsam mit dem Team der Intensivstation in der Klinik für Anästhesie und Intensivtherapie des Universitätsklinikums Marburg betreute.
Die Patientin ist eine 65-jährige Frau ohne Vorerkrankungen, die wegen fortschreitender Atemnot und Fieber eingeliefert wurde. Ihre Atemnot verschlimmerte sich rapide, so dass sie drei Stunden nach der Einlieferung intubiert werden musste, um künstlich beatmet zu werden. Ein molekulargenetischer Standardtest bestätigte, dass eine Infektion mit „SARS-CoV-2“ vorlag. Die Gesamtprognose der Patientin wurde aufgrund weiterer Organschädigungen als sehr schlecht eingeschätzt.
„Aus chinesischen Publikationen wussten wir, dass die Patienten mit einem schweren und sogar tödlichen Verlauf durch einen sogenannten Zytokinsturm charakterisiert sind“, sagt Neubauer. „Dabei handelt es sich um eine Überschwemmung des Körpers mit Substanzen, die das Immunsystem stimulieren.“ Diese Überreaktion der körpereigenen Abwehr schädigt das Gewebe – umso leichter verbreitet sich das eingedrungene Virus.
Neubauer vermutete, dass die Betroffene auf das Medikament Ruxolitinib ansprechen könnte, das ursprünglich aus der Krebstherapie stammt: Das Mittel hemmt Enzyme im Körper, die an überschießenden Entzündungsreaktionen beteiligt sind. „Wir haben die behandelnden Kollegen darauf hingewiesen, dass das Krebsmittel vielleicht die lebensbedrohlichen Effekte abwenden könnte, die eine entzündliche Schädigung des Lungengewebes mit sich bringt“, sagt der Krebsspezialist.
„Wir standen vor einer schweren Entscheidung“, ergänzt Professor Dr. Hinnerk Wulf, Direktor der Klinik für Anästhesie und Intensivtherapie: „Denn ob die Theorie auch in der Praxis funktioniert, war ungewiss; mit der versuchsweisen Behandlung war eben auch ein Risiko verbunden.“ Tatsächlich besserte sich der Zustand der Marburger Patientin, nachdem ihr Ruxolitinib verabreicht worden war: Das Behandlungsteam konstatierte eine klinische Stabilisierung sowie eine rasche Verbesserung von Atmung und Herzfunktion.
„Dieser Verlauf war im Vergleich zu dem anderer Betroffener bemerkenswert“, hebt Wiesmann hervor. Vom zehnten Tag ihres Klinikaufenthalts an konnte die Patientin schrittweise vom Beatmungsgerät entwöhnt werden. Auch die Virusvermehrung war während der Verabreichung des Krebsmedikaments herabgesetzt.
Offenbar handelt es sich bei dem Behandlungserfolg nicht um einen Einzelfall: Das Marburger Team verabreichte das Krebsmedikament noch mehreren anderen Patienten, um den schweren Krankheitsverlauf bei ihnen in den Griff zu bekommen. „Bei allen, denen das Mittel länger als eine Woche verabreicht worden ist, ist es am Ende gut geworden“, erklärt Neubauer. Auch ein Team um Professor Dr. Paul Graf La Rosée vom Schwarzwald-Baar-Klinikum berichtet vom erfolgreichen Einsatz des Hemmstoffs, wenn auch bei minder schweren Fällen.
„Der zeitliche Zusammenhang zwischen dem Beginn der Ruxolitinib-Gabe und der gesundheitlichen Besserung ist so eng, dass die Vermutung naheliegt, die Hemmung könne zu dem günstigen klinischen Verlauf beigetragen haben“, legt Neubauer dar. Aufgrund der Behandlungserfolge genehmigte das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte eine klinische Studie, in der die Wirkung einer Ruxolitinib-Verabreichung bei weiteren „COVID-19“-Patienten wissenschaftlich überprüft werden soll.