Die Angst vor einem erneuten massiven Anstieg der Ansteckungs- und Todeszahlen durch das Coronavirus hält Europa in Atem. Während die Fallzahlen nahezu überall weiter stiegen, zeigte sich die EU-Krankheitsbekämpfungsbehörde ECDC am Donnerstag besonders besorgt über die Situation in sieben mehrheitlich östlichen EU-Ländern, aber auch in Spanien. Die EU-Kommission rief alle Mitgliedstaaten auf, entschieden zu handeln. Vielerorts wurden die Restriktionen zur Eindämmung der Pandemie erneut deutlich verschärft.
„Dies könnte unsere letzte Chance sein, um eine Wiederholung des letzten Frühjahrs zu verhindern“, sagte Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides in Brüssel. Es sei bereits fast zu spät, „in einigen Mitgliedstaaten ist die Situation bereits schlimmer als im März.“
Einem aktuellen ECDC-Bericht zufolge ist der Anteil von schweren Krankheitsverläufen und Krankenhauseinweisungen in Spanien, Rumänien, Bulgarien, Kroatien, Ungarn, Tschechien und Malta besorgniserregend. In einigen dieser Ländern sei deshalb bereits eine steigende Zahl von Corona-Toten zu beklagen, in den anderen sei dies zu erwarten.
In zwölf weiteren EU-Ländern, darunter Frankreich, Österreich und Belgien, sowie in Großbritannien steigen die Ansteckungszahlen laut ECDC ebenfalls rasant. Bislang seien dort allerdings eher jüngere Menschen betroffen und schwere Krankheitsverläufe seltener. In den restlichen Ländern, darunter Deutschland, ist die Lage demnach stabil. Insgesamt verzeichnet Europa mittlerweile über fünf Millionen bestätigte Ansteckungen.
ECDC-Chefin Andrea Ammon bezeichnete die Übertragung des Virus im privaten Bereich – bei Feiern, Familienessen, Hochzeiten und ähnlichem – als zentrales Problem. „Das ist es, was in vielen Ländern tatsächlich das epidemiologische Bild bestimmt“, sagte die deutsche Medizinerin.
Gesundheitskommissarin Kyriakides beklagte zudem voreilige Rücknahmen von Corona-Restriktionen in einigen Ländern. Die aktuelle Lage zeige „überdeutlich, dass die Krise noch nicht hinter uns liegt.“
In ihrer aktualisierten Risikobewertung warnen die ECDC-Experten zudem, dass die bisher ergriffenen Maßnahmen „nicht immer ausreichend waren“. Es sei nun von „entscheidender Bedeutung, dass die Mitgliedstaaten bei den ersten Anzeichen neuer Ausbrüche alle erforderlichen Maßnahmen ergreifen“.
Im Detail kamen die EU-Experten zu dem Ergebnis, dass Abstandhalten, Hygieneregeln und die Verwendung von Gesichtsmasken allein die Verbreitung des Virus offenbar nicht aufhalten können. Die ECDC rief vor diesem Hintergrund zu einer gezielten Stärkung der Gesundheitssysteme auf. Angehörige von Risikogruppen sowie Beschäftigte im Gesundheitswesen müssten besser geschützt werden.
Viele Länder verschärften derweil die Restriktionen. In England müssen alle Restaurants und Pubs nun um 22.00 Uhr schließen. Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz kündigte eine Skisaison ohne Après-Ski-Partys an. Nach Angaben von Tourismusministerin Elisabeth Köstinger sollen Essen und Trinken nach dem Skifahren zwar möglich sein – aber selbst im Freien nur im Sitzen.
Frankreich verhängte im besonders betroffenen Marseille die Schließung aller Gastronomiebetriebe. In Paris und weiteren französischen Großstädten soll ebenfalls eine Sperrstunde ab 22 Uhr gelten. Erstmals seit der ersten Corona-Welle im Frühjahr müssen die Pariser Krankenhäuser zudem wieder nicht zwingend notwendige Operationen absagen. Ab dem Wochenende würden zunächst 20 Prozent der geplanten OPs verschoben, wie die öffentliche Krankenhaus-Gesellschaft AP-HP mitteilte. Grund ist der Druck auf die Intensivstationen infolge der seit Wochen steigenden Corona-Infektionszahlen.
Zugleich wuchs in Frankreich auch der Widerstand gegen die erneuten Einschränkungen. Ein Regionalvertreter aus Marseille sprach von einer „kollektiven Bestrafung“ durch die Pariser Zentralregierung. Die Bürgermeisterin der Hauptstadt, Anne Hidalgo, nannte die verhängte Sperrstunde genauso „schwer verständlich“ wie die Schließung aller Fitnessclubs und Sporthallen.
In Belgien lockerte die Regierung trotz steigender Corona-Zahlen einzelne Maßnahmen. Etwa sei es nicht nötig, das Tragen einer Mundmaske überall vorzuschreiben, sagte Regierungschefin Sophie Wilmès. In der Hauptstadt Brüssel galt die Maskenpflicht bislang jederzeit und in allen öffentlichen Bereichen. Ab Oktober soll sie auf belebte Orte wie die öffentlichen Verkehrsmittel beschränkt werden.