EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat Großbritannien vor einer einseitigen Änderung des EU-Austrittsabkommens gewarnt. Der Vertrag könne „nicht einseitig geändert, missachtet oder falsch angewendet werden“, sagte von der Leyen am Mittwoch vor dem Europaparlament. „Dies ist eine Frage des Gesetzes, des Vertrauens und des guten Glaubens.“ Premierminister Boris Johnson versucht, mit einem neuen Binnenmarktgesetz den im Januar mit der EU geschlossenen Brexit-Vertrag einseitig zu ändern.
Von der Leyen kritisierte Johnsons Plan, mit seinem Gesetz mehrere Schlüsselregelungen im Brexit-Vertrag zu Nordirland auszuhebeln. Das Ergebnis von drei Jahren harter Verhandlungen garantiere die Absicherung des Karfreitagsabkommens, betonte die Kommissionschefin. Die Europäische Union und Großbritannien „waren sich gemeinsam einig, dass dies der beste und einzige Weg ist, den Frieden auf der irischen Insel zu sichern. Und das werden wir nie wieder rückgängig machen“.
Johnson stellt sich am Mittwoch den Fragen des britischen Parlaments zu seinem auch in den eigenen Reihen hochumstrittenen Plan. Am Montagabend war der Gesetzentwurf in einer ersten Lesung vom Unterhaus abgesegnet worden. Doch wurde durch das Votum lediglich der Weg für viertägige intensive Parlamentsberatungen in dieser und der kommenden Woche freigemacht.
Zudem benötigt ein solches Gesetz auch die Zustimmung des britischen Oberhauses, des House of Lords. Dort gibt es – ebenso wie in Teilen des Unterhauses – Befürchtungen, dass durch die Änderungen die internationale Glaubwürdigkeit Großbritanniens beschädigt und der brüchige Frieden in Nordirland gefährdet werden könnte.
In dem neuen Binnenmarktgesetz geht es um die Aussetzung von Zollregelungen im Warenhandel für Nordirland und von Vorgaben zu Staatsbeihilfen für britische Unternehmen. Die EU sieht in den Änderungsplänen einen klaren Verstoß gegen das Brexit-Abkommen. Selbst die britische Regierung räumte einen internationalen Rechtsbruch ein, bezeichnete ihn aber als nur „sehr spezifisch und begrenzt“.
Johnsons Pläne belasten die laufenden Verhandlungen über die künftigen Beziehungen und ein Handelsabkommen zwischen der EU und dem Vereinigtem Königreich. Sie müssen bis spätestens Mitte November abgeschlossen werden, damit bis Jahresende ein Abkommen steht, wenn Großbritannien auch den Binnenmarkt und die Zollunion verlässt. Sonst gehen im beiderseitigen Handel wieder die Zollschranken herunter. Von der Leyen warnte deshalb, dass „mit jedem Tag, der vergeht, die Chancen für eine rechtzeitige Einigung schwinden“.
Großbritannien war am 31. Januar aus der Europäischen Union ausgetreten. Doch läuft eine Übergangsphase bis Jahresende, in der die künftigen Beziehungen geregelt werden sollen.
Die Nordirland-Frage war eine der schwierigsten bei der Aushandlung des Austrittsabkommens, da die Grenze zwischen Irland und Nordirland durch den Brexit de facto zu einer Landgrenze zwischen der EU und Großbritannien wurde. Ziel beider Seiten war es, Grenzkontrollen zum EU-Mitglied Irland zu verhindern, um ein Wiederaufflammen des blutigen Nordirlandkonflikts zu verhindern. Das Karfreitagsabkommen von 1998, mit dem der jahrzehntelange Nordirland-Konflikt überwunden wurde, sieht eine offene Grenze vor.