Marseille blickt auf die „zweite Corona-Welle“

Marseille, Frankreich
Marseille, Frankreich

Während ganz Frankreich eine „zweite Corona-Welle“ fürchtet, ist sie für die Krankenschwester Elsa Simoncini bereits Realität. Sie arbeitet auf der Intensivstation des größten Krankenhauses von Marseille und nennt die Lage „beängstigend“. Seit Mitte August sind die Neuinfektionen in der Hafenstadt regelrecht explodiert. Die Behörden verhängten am Montag schärfere Schutzmaßnahmen, Marseille wird damit zum Testfall für den neuen Umgang Frankreichs mit der Pandemie.

„Als wir diesen Sommer die Menschenmassen an den Stränden sahen, haben wir eine zweite Welle befürchtet“, sagt Notfallschwester Simoncini. „Nun ist sie da.“ Mit zuletzt 275 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner binnen einer Woche überschreitet Marseille den Corona-Warnwert von 50 um mehr als das Fünffache. Selbst in Paris liegt die Fallzahl aktuell nur halb so hoch wie in der Mittelmeer-Stadt. 

„Es gibt eine massive Beschleunigung“, sagt der Arzt Lionel Velly, der als Anästhesist auf der Intensivstation der Klinik arbeitet. „Seit dem 15. August ist die Kurve der Fallzahlen exponentiell gestiegen.“ Die regionale Gesundheitsbehörde spricht von einem „sehr starken Druck“ auf die Krankenhäuser.

Marseille ist die drittgrößte Stadt Frankreichs, im Großraum leben rund 1,7 Millionen Menschen. Sie war während der Krise im Frühjahr vergleichsweise glimpflich davongekommen, anders als das Grenzgebiet zu Deutschland und der Großraum Paris.

Doch nun ist sie der größte französische Corona-Hotspot vor Bordeaux: Die öffentlichen Krankenhäuser von Marseille haben die Zahl der Notfallbetten für Corona-Patienten auf 139 aufgestockt, es gibt 32 Beatmungsplätze. Ein großer Teil ist bereits belegt. Die entscheidende Frage sei, „wie groß die zweite Welle wird“, sagt Arzt Velly. „Anders als im März können wir nicht auf eine Ausgangssperre setzen, um den Anstieg abzuschwächen.“

Denn nicht nur die französische Regierung lehnt einen neuen Lockdown mit Rücksicht auf die gebeutelte Wirtschaft und die vielen Arbeitslosen ab. Auch die Stadtverwaltung von Marseille ist strikt dagegen.

„Strafmaßnahmen helfen nur einen kurzen Moment“, sagt die neue Bürgermeisterin Michèle Rubirola, die von den Grünen und linken Parteien unterstützt wird. Die 64-jährige Ärztin setzt auf die Einsicht der Bürger, wie sie der Zeitung „Le Monde“ sagte.

Doch solange die Zahl der Todesfälle von aktuell rund 31.000 in Frankreich nicht wieder in die Höhe schnellt, lässt die Einsicht zu wünschen übrig, meinen viele Experten. Dabei wurde am Wochenende landesweit ein neuer Höchststand von mehr als 10.000 Neuinfektionen in 24 Stunden erreicht.

Vor allem junge Leute setzen sich über die Hygieneregeln hinweg. Für Kopfschütteln sorgten Fernsehbilder hunderter Fans des Fußball-Erstligisten Olympique Marseille, die am alten Hafen den Sieg über Paris feierten – ohne Sicherheitsabstände, teils ohne Schutzmasken und unbehelligt von der Polizei.

Zudem haben die französischen Behörden große Probleme mit der Nachverfolgung der Infektionswege. Mit mehr als einer Million Corona-Tests pro Woche sind Frankreichs Labore überlastet, Getestete warten bis zu eine Woche auf ihre Ergebnisse. Viele Infizierte halten aus Angst vor Jobverlust die Quarantäne nicht ein. Um eine höhere Akzeptanz zu erreichen, hat die Regierung die Isolationszeit gerade erst von 14 auf sieben Tage verkürzt.

Anders als Deutschland hält Frankreich seine Grenzen zur EU überdies offen. Noch nicht einmal für den besonders betroffenen Nachbarn Spanien gibt es eine Reisewarnung.

In Marseille und Bordeaux haben die Behörden nun die Notbremse gezogen: Versammlungen mit mehr als tausend Teilnehmern sind verboten, Besuche in Altenheimen werden eingeschränkt. Ob die neuen Maßnahmen ausreichen, ist unklar. Viele fürchten bereits einen neuen Lockdown.

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