Wenige Tage nach dem Großbrand im Flüchtlingslager Moria haben die ersten Migranten auf der Insel Lesbos ein neues provisorisches Zeltlager bezogen. Nach Behördenangaben vom Sonntag wurden rund 500 Asylsuchende in dem neuen Lager aufgenommen. Hunderte weitere aber wollen nicht mehr auf Lesbos bleiben und verweigern den Gang in das neue Lager. Nach teils gewaltsamen Protesten am Vortag demonstrierten sie am Sonntag erneut für ihre Verlegung in andere EU-Staaten.
Das neue Zeltlager wurde auf einem ehemaligen Schießplatz in Kara Tepe errichtet. Am Sonntag warteten davor weitere Asylsuchende auf Aufnahme, nachdem sie tagelang im Freien campieren mussten. Einem bereits in Kara Tepe untergebrachten Kongolesen zufolge verbietet die Polizei den Insassen, das Lager wieder zu verlassen. Journalisten wurde der Zugang verwehrt.
Die Behörden sprachen von einer begrenzten Ausgangssperre, mit der sie eine Verbreitung des Coronavirus auf der Insel verhindern wollen. Nach Einschätzung von Einwanderungsminister Notis Mitarachi könnten sich inzwischen bis zu 200 Asylsuchende angesteckt haben. Bei den Aufnahmechecks für das neue Lager seien zwölf Menschen positiv auf das neuartige Coronavirus getestet worden.
Das vollkommen überfüllte alte Lager Moria, in dem viele Flüchtlinge teilweise seit Jahren unter menschenunwürdigen Bedingungen festsaßen, war bei Bränden am Dienstag und Mittwoch fast völlig zerstört worden. Rund 11.500 Menschen wurden obdachlos, darunter 4000 Kinder.
Der griechischen Nachrichtenagentur ANA zufolge wurden die Feuer am Dienstag nach Protesten einiger Bewohner des Lagers gelegt, die nach positiven Corona-Tests unter Quarantäne gestellt werden sollten. Die Behörden leiteten Ermittlungen ein.
Einwanderungsminister Mitarachi zeigte sich zuversichtlich, dass das für rund 3000 Bewohner ausgelegte neue Lager binnen fünf Tagen fertiggestellt und bezogen sein wird. Doch viele Asylsuchende befürchten einen noch schrecklicheren Lageralltag als in Moria. Nach dem langen vergeblichen Warten in Moria auf ihren Asylbescheid ist ihre Geduld am Ende.
„In Moria konnten wir bis zum Lockdown im März wenigstens raus, das neue Lager aber wird zu einem Gefängnis“, fürchtete die jungen Kongolesin Zola, die seit Dienstag mit ihrem Baby an der Straße zum Hafen der Inselhauptstadt Mytilini schläft. Der 21-jährige Afghane Mahdi Ahmadi sagte, er und andere Migranten wollten „nicht in ein abgeschlossenes Lager verlegt werden, in dem es weder Sicherheit noch Freiheit gibt“.
Am Samstag hatten hunderte Migranten vorwiegend friedlich gegen das neue Lager demonstriert. Als einige Demonstranten die Polizei mit Steinen bewarfen, setzte diese Tränengas ein. Einige Menschen wurden wegen Atemproblemen ins Krankenhaus gebracht. Am Sonntag gingen die Proteste weiter. Auf Transparenten stand: „Europa, rette uns“.
Auch die Bevölkerung auf Lesbos wehrt sich gegen die Errichtung eines neuen Lagers. Einige Einwohner hielten die Bulldozer der Bautrupps mit Straßensperren auf.
Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch warnte am Samstag vor „wachsenden Spannungen zwischen Anwohnern, Asylsuchenden und der Polizei“. Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis sprach von einem „explosiven Mix“ aus Pandemie und Flüchtlingskrise.