Mit seinen 77 Jahren und fast fünf Jahrzehnten in der Politik ist Joe Biden schon bei vielen Wahlen angetreten. Doch noch nie ging es um so viel wie jetzt: Bei der Präsidentschaftswahl am Dienstag will der weißhaarige Politik-Veteran Amtsinhaber Donald Trump aus dem Weißen Haus vertreiben. Der US-Demokrat, der eine „Schlacht um die Seele der Nation“ ausgerufen hat, geht als Favorit in die Wahl. Doch er hat zu viel politische Erfahrung, um sich eines Erfolgs sicher zu sein.
Der frühere Vizepräsident hat in landesweiten Umfragen einen klaren Vorsprung vor Trump, auch in einer Reihe umkämpfter Schlüsselstaaten liegt er vorn. Doch den Demokraten steckt noch ihre historische Wahlniederlage des Jahres 2016 in den Knochen. Vor vier Jahren war die hoch favorisierte Ex-Außenministerin Hillary Clinton sensationell dem Politik-Quereinsteiger Trump unterlegen.
Biden will es in diesem Jahr besser machen. Und dass der Politik-Oldie mit dem breiten Lächeln und dem Faible für Piloten-Sonnenbrillen jetzt als Favorit gilt, hat viele Gründe.
Der einstige Stellvertreter von Präsident Barack Obama hat sich vom Anfang seiner Wahlkampagne an konsequent als Gegenentwurf zu Trump positioniert. Der langjährige Senator versprüht keine energiegeladene Aufbruchstimmung, sondern verspricht den von der aufreibenden Trump-Präsidentschaft ermüdeten Wählern eine Rückkehr zu Normalität, Verlässlichkeit, ruhiger Regierungsführung, Anstand und amerikanischen Werten.
„Vereinen“ und „heilen“ will er das nach vier turbulenten Trump-Jahren zutiefst gespaltene Land. Nach dem Motto: Restauration statt Revolution.
Gerade in der Corona-Krise hätte der Kontrast zwischen den beiden Rivalen nicht größer sein können. Während Trump die Gefahr durch das Virus pausenlos kleinredete, mahnte Biden Vorsicht und einen entschlossenen Kampf gegen die Pandemie an. Im Gegensatz zum Präsidenten trug der 77-Jährige in den vergangenen Monaten demonstrativ eine Schutzmaske. Und anders als der zwischenzeitlich selbst an Covid-19 erkrankte Volkstribun Trump hielt Biden Wahlkampfauftritte nur vor kleinem Publikum mit strengen Abstandsregeln ab.
Biden machte die Pandemie, der in den USA schon mehr als 228.000 Menschen zum Opfer gefallen sind, zu seinem Hauptangriffspunkt gegen Trump. „Jeder, der für so viele Tote verantwortlich ist, sollte nicht Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika bleiben“, sagte er kürzlich beim zweiten Fernsehduell mit dem Präsidenten.
Biden zeigte zudem in der Krise seine Fähigkeit zu Mitgefühl, schon immer eine seiner Stärken. Genährt wird es aus persönlichen Tragödien in seinem Leben. Der in der Arbeiterstadt Scranton im Bundesstaat Pennsylvania geborene Biden war mit gerade einmal 29 Jahren in den US-Senat gewählt worden, als seine Frau und seine kleine Tochter bei einem Autounfall ums Leben kamen. 2015 starb dann sein ältester Sohn Beau an einem Hirntumor.
In der Folge verzichtete der damalige Vizepräsident auf eine eigene Präsidentschaftskandidatur 2016. Im vergangenen Jahr stieg er aber in das Präsidentschaftsrennen ein, zum insgesamt dritten Mal in seiner langen Karriere. Bei der Bewerberauswahl seiner nach links gerückten Demokraten hatte der stellenweise antiquiert wirkende Mitte-Politiker es lange schwer. Viele schrieben ihn nach ersten Vorwahlschlappen ab, bis ihm ein glänzendes Comeback gelang und er sich die Präsidentschaftskandidatur sicherte.
Auch danach belehrte Biden Zweifler eines Besseren. Das für Versprecher und verbale Aussetzer berüchtigte Politik-Urgestein lieferte einen extrem disziplinierten Wahlkampf ohne größere Fehler ab und ließ sich bei zwei Fernsehduellen von Trump nicht unterkriegen. Als der Präsident ihm beim ersten Aufeinandertreffen pausenlos ins Wort fiel, fuhr Biden ihn mit den Worten „Halt den Mund, Mann!“ an.
Sollte Biden, der am 20. November seinen 78. Geburtstag feiert, die Wahl gewinnen, würde er als ältester Präsident der US-Geschichte das Amt antreten. Und wenn er verliert? Die Antwort gab Biden kürzlich selbst: Dann wäre er wohl ein „lausiger Kandidat“ gewesen.