Der seit Monaten schwelende Konflikt um die nordäthiopische Region Tigray eskaliert. Nach dem Ablauf eines Ultimatums an die in der Region herrschende Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF) hat Regierungschef Abiy Ahmed eine Militäroffensive auf die Regionalhauptstadt Mekelle angeordnet. Doch die TPLF ist ein mächtiger Gegner: Nach Experteneinschätzungen kontrolliert sie bis zu 200.000 Kämpfer. In der Politik Äthiopiens ist sie zudem tief verwurzelt.
Tigray ist die nördlichste von Äthiopiens zehn Regionen und liegt mehr als 600 Kilometer von der Hauptstadt Addis Abeba entfernt. Die Bevölkerung gehört mehrheitlich der Ethnie der Tigray an, die etwa sechs Prozent der 110 Millionen Einwohner starken Bevölkerung Äthiopiens stellt. Entsprechend des „ethnischen Föderalismus“ verfügt die Region über eine eigene Verwaltung. Die meisten Menschen leben auf dem Land.
Tigray besteht größtenteils aus zerklüftetem Hochland und landwirtschaftlich genutzten Tiefebenen. Die Regionalhauptstadt Mekelle liegt im Osten der Region und hat rund 500.000 Einwohner.
Die Region verfügt über wichtige Industrieanlagen. Dazu zählen Äthiopiens größtes Zementwerk, eine große Goldmine und eine der größten Textilfabriken des Landes. Die Regierung in Addis Abeba hatte Mitte November die Konten dieser Unternehmen eingefroren. Sie sollen die TPLF finanziell unterstützt haben.
Nach dem Sturz des brutalen marxistischen Derg-Regimes unter Mitwirkung der TPLF beherrschte die Gruppe zwischen 1991 und 2018 Äthiopiens Politik und Sicherheitsapparat. Als 2018 Ministerpräsident Abiy Ahmed von der zahlenmäßig größten Ethnie, den Oromo, an die Macht kam, ging er gegen den TPLF-Einfluss vor. Deren Anführer zogen sich daraufhin in die Tigray-Region zurück und begannen, sich von dort aus der Regierung zu widersetzen.
In einer von der Regierung in Addis Abeba abgelehnten Regionalwahl im September sicherte sich die TPLF alle Sitze. Experten sehen in der Abstimmung einen zentralen Auslöser des derzeitigen Konflikts.
Aufgrund der föderalen Gliederung Äthiopiens verfügt die TPLF nicht nur über politische Macht. Nach Einschätzung von William Davison von der Denkfabrik International Crisis Group kontrolliert sie bis zu 200.000 Soldaten, Paramilitärs und Miliz-Kämpfer. Auch im äthiopischen Sicherheitsapparat habe die Gruppe noch immer Verbündete, sagt Roland Marchal vom renommierten Politik-Institut Sciences Po in Paris.
Tigray nimmt auch in der Geschichte Äthiopiens eine bedeutende Rolle ein. Die antike Stadt Axum zählt zum Unesco-Weltkulturerbe und war zwischen dem ersten und neunten Jahrhundert die Hauptstadt eines mächtigen Königreichs, das im vierten Jahrhundert christianisiert wurde. Ein 24 Meter hoher Obelisk in Axum könnte sogar bereits im fünften Jahrhundert vor Christus erbaut worden sein. Äthiopische Christen glauben, dass die biblische Bundeslade aus Jerusalem und mit ihr die Zehn Gebote noch immer in Axum verborgen liegen.