Seit einem Jahr leitet Ursula von der Leyen die EU-Kommission. Es war ein turbulenter Start: Nach dem Brexit kam die Corona-Krise, die viele Vorhaben der ersten Frau an der Spitze Europas über den Haufen warf.
Nach einem energischen Start mit reihenweise Ankündigungen ab dem 1. Dezember tat sich die frühere Bundesverteidigungsministerin in der Corona-Pandemie anfangs schwer. Konsequent setzte die 62-Jährige zwar die EU-Defizitregeln außer Kraft, damit die Mitgliedstaaten durch schuldenfinanzierte Konjunkturprogramme in der Krise gegensteuern konnten.
Die Appelle der ausgebildeten Ärztin konnten aber nicht verhindern, dass Länder wie Deutschland oder Frankreich den Export von Schutzausrüstung untersagten, während in Italien tausende Menschen in überfüllten Krankenhäusern starben. Im April entschuldigte sich die CDU-Politikerin im Namen Europas für die fehlende Solidarität bei den Italienern.
Mit der Beschaffung von Impfstoff für alle Mitgliedstaaten durch die Kommission habe von der Leyen dann in der Krisen-Bewältigung „ihre Nische gefunden“, sagt Rosa Balfour. Die Leiterin des Instituts Carnegie Europe sieht darin auch „eine Anerkennung der Führungsstärke“ der Kommissionschefin. Und mit dem Corona-Hilfsfonds, für den die EU-Kommission 750 Milliarden Euro Schulden an den Finanzmärkten aufnehmen soll, habe die Deutsche nun eine weitere Möglichkeit, die Position ihrer Behörde „gegenüber den Mitgliedstaaten zu stärken“.
Dies hält Luuk Van Middelaar, ehemaliges Mitglied des Kabinetts des früheren EU-Ratspräsidenten Herman Van Rompuy, auch für dringend notwendig. Der Niederländer vermisst bei von der Leyen wie beim gleichzeitig ins Amt gekommenen EU-Ratspräsidenten Charles Michel „politisches Gewicht“. Deshalb sei Bundeskanzlerin Angela Merkel nach wie vor „Frau Europa“.
Für von der Leyen, die zuvor zwar mehrfach Ministerin war, aber eben keine Regierungschefin, ist es schwer, sich mit dem ehemaligen Luxemburger Ministerpräsidenten Jean-Claude Juncker zu messen, der jahrzehntelange Erfahrung auf europäischer und internationaler Bühne hatte. Im Januar verkündigte sie nach einem Treffen mit US-Präsident Donald Trump voreilig, sie erwarte im Handelsstreit mit Washington eine Einigung „in wenigen Wochen“. Daraus wurde bekanntermaßen nichts.
Hinzu kommen die Umstände ihrer Ernennung: Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hatte sie letztlich vorgeschlagen, um den Spitzenkandidaten der Europäischen Volkspartei (EVP) bei der Europawahl, Manfred Weber (CSU), zu verhindern. Im Europaparlament kam die Aushebelung des Spitzenkandidatenprinzips nicht gut an: Von der Leyen wurde nur mit einer hauchdünnen Mehrheit von neun Stimmen zur Kommissionspräsidentin gewählt.
Sie versuchte, mit einem entschlossenen Kurs in der Klimapolitik gegenzusteuern, und schaffte es, das Ziel durchzusetzen, die EU bis zum Jahr 2050 klimaneutral zu machen. Dies habe ihr im Europaparlament „etwas Legitimität“ gebracht, sagt Yves Bertoncini, ehemaliger Leiter des Delors-Instituts. Ob dies reiche, um Gesetzesvorhaben der Kommission in den kommenden Jahren reibungslos durchs Parlament zu bringen, sei aber offen.
Das EU-Parlament war es schließlich auch, dass beim nächsten Sieben-Jahres-Haushalt der Union nach einem schwierigen Kompromiss der Staats- und Regierungschefs nochmals mehrere Milliarden mehr heraushandeln konnte. Dagegen habe von der Leyen nicht gegen Kürzungen in wichtigen Programmen gekämpft und den Staats- und Regierungschefs das Feld überlassen, sagt Bertoncini. „Sie ist verblasst.“
Die Corona-Krise hat auch das Vorhaben ausgebremst, eine „geopolitische Kommission“ zu schaffen, die Europa ein stärkeres Gewicht auf der Weltbühne gibt. Nun hofft von der Leyen, dass der neue US-Präsident Joe Biden wieder mehr auf Zusammenarbeit setzt und die EU auf internationaler Bühne wieder einen Partner bekommt.
Bertoncini will über von der Leyen nicht den Stab brechen, sie habe schließlich noch vier weitere Jahre. Ob sie am Ende an Vorgänger wie Juncker oder den Franzosen Jacques Delors herankomme, sei offen, sagt der Franzose. Bisher erinnere sie ihn eher an den weniger durchsetzungsstarken Portugiesen José Manuel Barroso.