Die vertuschte Seuche: Trauer und Wut in Wuhan ein Jahr nach den ersten Corona-Infektionen

Coronavirus - Bild: AFP via glomex
Coronavirus - Bild: AFP via glomex

China feiert seinen Sieg über die Corona-Pandemie, anders als in vielen anderen Ländern ist das Leben in der Volksrepublik weitgehend zur Normalität zurückgekehrt. Doch für Liu Pei’en aus Wuhan ist nichts mehr wie früher. Sein Vater war im Januar eines der ersten Opfer der neuen Seuche – vermutlich, denn Corona-Tests standen damals noch nicht zur Verfügung. Der 44-Jährige gab daraufhin sein erfolgreiches Geschäft als Investment-Banker auf und wurde Buddhist.

Außer der Trauer macht Liu auch die Wut auf die Regierung zu schaffen, die die Epidemie in den ersten Wochen vertuschte. Ab dem 8. Dezember traten im zentralchinesischen Wuhan die ersten Krankheitsfälle auf, die die Weltgesundheitsorganisation (WHO) später als Infektionen mit dem neuartigen Virus einstufte.

Doch die Menschen in der Millionenstadt erfuhren davon nichts. Sie hatten gar keine Chance, sich zu schützen, und das Virus konnte sich von Wuhan aus ungehindert in der ganzen Welt verbreiten. Lius Vater steckte sich wahrscheinlich bei einer Routineuntersuchung im Krankenhaus an. Der ehemalige Parteisekretär entwickelte die jetzt als typisch bekannten Symptome und starb am 29. Januar.

„Man könnte sagen, auch ich bin am 29. Januar gestorben“, sagt Liu in seiner Wohnung in einem wohlhabenden Viertel von Wuhan. Es ist der Geburtstag seines Vaters, an diesem Tag wäre er 79 Jahre alt geworden. Einen Großteil des Jahres 2020 habe er in „einer Art Wahnsinn“ verbracht, sagt Liu. In Online-Netzwerken machte er seiner Empörung über den Umgang der Regierung mit dem Ausbruch Luft. „Ich war extrem wütend. Ich wollte Rache“, sagt Liu.

Erschöpft und frustriert begann er, sich dem Buddhismus zuzuwenden. Zum Geburtstag seines Vaters zündet er Kerzen in einem Tempel an und betet vor der drei Meter hohen goldenen Buddhastatue.

Auch andere Familien machen die Stadtregierung für den Tod ihrer Angehörigen verantwortlich. Diese habe Ärzte zum Schweigen gezwungen und die Übertragung von Mensch zu Mensch geleugnet. Nach offiziellen Angaben starben fast 4000 Menschen in der Metropole.

Zhong Hanneng gehört zu einer Gruppe in Wuhan, die versucht, die Stadt zu verklagen – bisher ohne Erfolg. Zhongs Sohn Peng Yi, ein Grundschullehrer und Vater einer kleinen Tochter, erkrankte Anfang des Jahres. Zwei Wochen lang kämpfte die Familie darum, den 39-Jährigen in einem der überfüllten Krankenhäuser unterzubringen. Mitte Februar starb er einsam auf einer Intensivstation.

Der Gedanke daran raubt Zhong immer noch den Schlaf. Die Familie spricht jeden Tag mit dem gerahmten Porträt von Peng und stellt beim Abendessen immer noch eine Schüssel und Stäbchen für ihn auf den Tisch. 

Der Schmerz beim Essen sei oft unerträglich, sagt die 67 Jahre alte Mutter. „Wir sind sehr, sehr einsam“, sagt sie. „Niemand will mehr mit uns zu tun haben.“ Freunde und Verwandte hätten sich abgewandt aus der irrationalen Angst, sich bei den Zhongs mit dem neuartigen Coronavirus anzustecken.

Zuspruch finden Angehörige der Corona-Opfer in Internetforen, in denen sie sich auch über rechtliche Schritte austauschen. Doch die Gruppen seien von der Polizei infiltriert worden, sagen Mitglieder. Teilnehmer würden schikaniert und bedroht. Auf Kritik an ihrem Krisenmanagement reagieren die Behörden allergisch, die Fehler zu Beginn der Pandemie sind eines der sensibelsten politischen Themen in China. Mehrere Betroffene sagten Verabredungen für Interviews kurzfristig wieder ab.

Eine 36-Jährige aus Wuhan ist bereit zum Gespräch, möchte aber anonym bleiben. Auch ihr Vater starb zu Beginn der Pandemie. Die Welt solle von der anfänglichen „Vertuschung“ erfahren, sagt sie.

„Wir wussten nicht, dass es so ernst war.“ Die „Schönfärberei“ der Regierung erschwere die Trauer. „Das Leben wird weitergehen“, sagt die Frau. „Aber dieser Schatten wird bleiben.“

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