In der EU schwinden zusehends die Hoffnungen auf ein Handelsabkommen mit Großbritannien nach dem Brexit. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen habe „niedrige Erwartungen“, dass ein Übereinkommen noch rechtzeitig abgeschlossen werde, hieß es am Freitag beim EU-Gipfel in Brüssel. Ähnlich pessimistisch hatte sich zuvor der britische Premierminister geäußert: Boris Johnson forderte seine Landsleute auf, sich auf ein Scheitern der Gespräche einzustellen. Europas Aktienmärkte reagierten mit Kurseinbrüchen.
Sie wolle nicht riskieren, Prozentangaben dazu zu machen, für wie wahrscheinlich sie einen Verhandlungserfolg halte, sagte von der Leyen nach Angaben aus EU-Kreisen. Sie wolle aber keinesfalls die Erwartungen hochschrauben. „Die Wahrscheinlichkeit eines ‚No deal‘ ist größer, als die eines Deals“, sagte die Kommissionspräsidentin.
Nachdem ein Treffen in Brüssel zwischen ihr und Johnson am Mittwochabend keinen Durchbruch brachte, rief der Premierminister die Briten am Donnerstag auf, sich auf eine Handelsbeziehung mit der EU ohne Abkommen einzustellen. Für dieses Szenario gebe es „jetzt eine hohe Wahrscheinlichkeit“, sagte Johnson im britischen Fernsehen.
Er betonte, dass Großbritannien die Verhandlungen jedoch nicht vorzeitig beenden werde. „Wir werden die Gespräche nicht abbrechen, wir werden weiter verhandeln.“ Johnson zeigte sich dabei auch offen für Gespräche mit Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron: „Ich werde nach Brüssel gehen, ich werde nach Paris gehen, ich werde nach Berlin gehen, ich werde wo auch immer hingehen, um einen Deal nach Hause zu bringen.“
Großbritannien war zum 1. Februar aus der EU ausgetreten, bis zum Jahresende bleibt das Land aber noch im EU-Binnenmarkt und in der Zollunion. In dieser Übergangsphase ist es bisher nicht gelungen, ein Handelsabkommen für die Zeit nach dem Brexit auszuhandeln. Ohne Einigung würden im beiderseitigen Handel zum Jahreswechsel Zölle erhoben mit gravierenden Folgen für die Wirtschaft.
Die Verhandlungen über ein Post-Brexit-Abkommen sollen noch bis Sonntag andauern. Hauptstreitpunkte in den Gesprächen sind nach wie vor faire Wettbewerbsbedingungen, die Kontrolle eines künftigen Abkommens und die Fangrechte für EU-Fischer in britischen Gewässern.
Angesichts der festgefahrenen Gespräche veröffentlichte die EU-Kommission am Donnerstag Notfallgesetze für den Fall, dass es am 1. Januar kein Handelsabkommen gibt. Die Pläne der Brüsseler Behörde sollen „einige der bedeutenden Störungen“ etwa im Flug- und Straßenverkehr abmildern.
Die britische Zentralbank erklärte am Freitag, der Bankensektor des Vereinigten Königreichs sei „stabil“ aufgestellt für ein „breites Spektrum möglicher wirtschaftlicher Auswirkungen“. Allerdings bedeute Stabilität des Finanzsystems nicht, dass Kunden keinerlei Folgen eines Scheiterns der Verhandlungen spüren würden, erklärte die Bank of England. „Marktschwankungen und Störungen der Finanzdienstleistungen“ seien möglich.
Die pessimistischen Äußerungen in Brüssel und London schlugen sich am Freitagmittag auf den Finanzmärkten nieder. Die Aktien an der Londoner Börsen fielen um 1,2 Prozent, in Frankfurt am Main sank der Kurs um 2,1 Prozent, in Paris um 1,4 Prozent.