Der Kreml-Kritiker Alexej Nawalny ist nach einer Recherche mehrerer Medien mutmaßlich im Rahmen einer komplexen Operation durch Agenten des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB vergiftet worden. Mindestens acht FSB-Mitarbeiter seien identifiziert worden, berichtete der „Spiegel“ am Montag, der gemeinsam mit den Investigativplattformen Bellingcat und The Insider sowie dem US-Nachrichtensender CNN recherchiert hat. Bei den Identifizierten handele es sich um sechs ausführende Agenten und zwei mutmaßliche Führungskräfte.
Vor allem durch Auswertung der Mobilfunkverbindungen, GPS- und Standortdaten von mehr als einem Dutzend mutmaßlicher FSB-Agenten und Analysen zahlreicher Passagierlisten russischer Linienflüge lasse sich nachvollziehen, dass Nawalny bereits seit 2017 im Visier des FSB-Teams stand, schrieb der „Spiegel“. So seien die FSB-Agenten mehr als 30 Mal zu Nawalnys Reisezielen vorausgeflogen und kurz nach ihm nach Moskau zurückgekehrt. Demnach ist es wenig wahrscheinlich, dass es sich bei dem FSB-Team um Agenten handelte, die Nawalny nur beobachteten.
Die beiden mutmaßlichen Führungskräfte gehören dem „Spiegel“ und seinen Partnern zufolge zwei FSB-Einheiten an, die in der Vergangenheit bereits mit Giftmorden in Verbindung gebracht wurden: das „Institut für Kriminalistik“ und das ihm übergeordnete „Zentrum für Spezialtechniken“. Eine der beiden Führungskräfte kommunizierte den Recherchen zufolge regelmäßig mit Chemielaboren, die mit dem Nowitschok-Programm Russlands in Verbindung stehen. Alle acht identifizierten FSB-Männer haben demnach entweder eine Vorgeschichte in medizinischen oder chemischen Bereichen oder haben für russische Spezialkräfte gearbeitet.
Nawalny war am 20. August auf einem Flug vom sibirischen Tomsk nach Moskau zusammengebrochen. Zwei Tage später wurde der 44-Jährige, noch im Koma liegend, zur Behandlung in die Berliner Universitätsklinik Charité gebracht. Nach Angaben von drei europäischen Laboren, deren Ergebnisse von der Organisation für das Verbot Chemischer Waffen (OPCW) bestätigt wurden, wurde Nawalny mit einem chemischen Nervenkampfstoff aus der Nowitschok-Gruppe vergiftet. Moskau bestreitet jede Beteiligung. Nawalny befindet sich immer noch in Deutschland, wo er sich von dem Anschlag erholt.
Laut der „Spiegel“-Recherche konnte im Vorfeld von Nawalnys Reise nach Tomsk über Nowosibirsk reger Telefonverkehr zwischen den insgesamt acht FSB-Agenten festgestellt werden. Außerdem wurde einer der FSB-Männer, Alexej Alexandrow, in Nowosibirsk vor dem Hotel einer Vertrauten Nawalnys geortet.
Nawalny berichtete dem „Spiegel“ von einer auffälligen Begebenheit am Vorabend seines Zusammenbruchs: Hinter dem Tresen der Hotelbar hätten sich viel mehr Menschen aufgehalten als sonst. Der Barkeeper habe ihm eine Bloody Mary verwehrt, seinem Wunsch nach einem Negroni aber entsprochen.
Nachdem Nawalny die Bar verlassen hatte, kommunizierten die FSB-Leute intensiv miteinander, bis Alexandrows Telefon letztmalig kurz nach Mitternacht des 20. Augusts nahe dem Hotel geortet wurde. Am nächsten Morgen verließ Nawalny früh das Hotel in Tomsk. Zeitgleich setzte eine Telefonstafette zwischen einem mutmaßlich vor Ort anwesenden FSB-Mitarbeiter mit den in Moskau sitzenden Führungskräften ein.
Nachdem offensichtlich war, dass Nawalny den Anschlag überlebt hatte, begaben sich eine der Führungskräfte und drei Mitarbeiter des FSB-Teams den Recherchen zufolge in die sibirische Stadt Gorno-Altajsk. Dort befindet sich das „Institut für Probleme chemischer und energetischer Technologien“, das Mitarbeiter beschäftigt, die darauf spezialisiert sind, Orte und Gegenstände nach dem Einsatz von chemischen Kampfstoffen zu reinigen.
Möglicherweise handelte es sich bei dem Tötungsversuch im August nicht um den ersten Anschlag auf Nawalny. Dem „Spiegel“ berichtete Nawalny von zwei Zwischenfällen, darunter einem im Juli 2020. Während einer Privatreise mit seiner Ehefrau nach Kaliningrad habe diese Symptome ganz ähnlich der seinigen im August gezeigt. Sie habe sich aber kurz darauf wieder besser gefühlt. Mitglieder des identifizierten FSB-Teams hielten sich zeitgleich zum Ehepaar Nawalny in Kaliningrad auf.
Auf Fragen des „Spiegel“ hätten bislang weder der FSB noch die verdächtigen Agenten geantwortet, schrieb das Nachrichtenmagazin.