Als Geisterfahrer auf der Flucht ein Kind getötet – und doch kein Mörder?

Die Justitia - ein Symbol der Rechtsstaatlichkeit
Die Justitia - ein Symbol der Rechtsstaatlichkeit

Neben dem Tatort im Münchner Stadtteil Laim brennen bis heute Kerzen für Max: 14 Monate nach dem Tod des 14-Jährigen durch einen in seinem Sportwagen vor der Polizei fliehenden Drogendealer wühlt der Fall in München Menschen auf. Seit Dienstag läuft der Prozess gegen den Raser. Dessen Verteidiger bestreiten einen Mordvorwurf – und geben dem Schüler und der Polizei eine Mitverantwortung.

Der in Bad Tölz geborene Angeklagte Victor-Friedrich B. hat eine Respekt einflößend kräftige Figur. Doch als die Staatsanwaltschaft im Detail beschreibt, wie der Gymnasiast Max am späten Abend des 15. Novembers 2019 von ihm totgefahren wurde, bricht B. zusammen und weint. „Es geht mir nicht gut“, sagt er der Richterin Elisabeth Erl. Ein Sanitäter gibt ihm ein Beruhigungsmittel.

Mit seinem mehr als 300 PS starken BMW überfuhr B. Max. Zur Tatzeit befand er sich unter Bewährung wegen Drogenhandels. Dennoch verstieß er gegen seine Bewährungsauflagen und konsumierte auch am Tattag Kokain.

Den äußeren Rahmen der Abläufe gesteht B. – so auch ein verbotenes Wendemanöver, weil er sich verfahren habe. Eine Streife bemerkte dies und nahm die Verfolgung auf. Als B. die Blaulichter sah, startete er als Geisterfahrer mit im Schnitt 120 Stundenkilometern seine Flucht auf einer dreispurigen Straße.

B. raste über zwei große Kreuzungen, ohne auf die richtige Fahrbahn zu wechseln. Vor der dritten Kreuzung folgte dann der fatale Zusammenstoß: Eine Gruppe Jugendlicher verließ einen Linienbus und wollte die Straße überqueren. Der 14 Jahre alte Max ging voran und wurde mit 122 Stundenkilometern von B. erfasst.

Der Junge war auf der Stelle tot. Eine 16-jährige Begleiterin wurde verletzt, mehrere Autofahrer mussten ausweichen. B. ist deshalb wegen Mordes und mehrfachen versuchten Mordes angeklagt.

Doch handelte es sich wirklich um Mord? Die Verteidiger bestreiten dies mit Nachdruck. Es sei kein Vorsatz zu erkennen, sagt Anwältin Daniela Gabler. „Nicht jedes Vergehen im Straßenverkehr, bei dem ein Mensch zu Tode kommt, ist ein Mord.“

Und auch das gelte: „Nicht jeder Raserunfall gleicht dem anderen.“ Gabler fordert die Richterin auf, den Fall nicht mit dem Fall vom Berliner Kurfürstendamm gleichzusetzen – dort wurde ein Raser rechtskräftig wegen Mordes verurteilt.

Die Frage, ob es sich um Mord oder ein illegales Straßenrennen handelte, entscheidet über eine lebenslange Haft oder bis zu zehn Jahre Gefängnis. B. hat ein auffällig prominentes Verteidigerteam, darunter der auf Revisionen spezialisierte Andreas Lickleder, der auch schon im NSU-Prozess im Verteidigerteam von Beate Zschäpe arbeitete.

Die Eltern von Max verzichten auf Anraten ihres Anwalts auf einen Prozessbesuch. Auch wegen der erwartbaren Verteidigerstrategie habe er abgeraten, sagt ihr Rechtsanwalt.

Denn die Verteidiger geben nicht nur der Polizei eine Mitschuld: Diese habe durch die Verfolgung die Gefahr „weiter vertieft“. Sie geben auch Max eine Mitschuld: Dieser sei „unstreitig“ bei Rot über die Ampel gegangen. Anders als die Verteidiger gehen die Nebenkläger allerdings von einer grünen Fußgängerampel aus, dies werde die Beweisaufnahme zeigen.

Beim Angeklagten kann der Anwalt der Familie keine Reue erkennen. Tatsächlich ist B. in seiner persönlichen Erklärung vor allem mit sich selbst beschäftigt. „Der Schock, die Schuldgefühle und die Selbstmordgedanken sind nach wie vor präsent“, klagt er. „Ich habe noch immer Schlafstörungen.“ Ein Wort der Entschuldigung findet er hingegen nicht.

Trotz des forschen Auftritts seiner Verteidiger bekommt B. am Dienstag weiteren Grund, schlecht zu schlafen: Richterin Erl sagt, in diesem Fall komme auch die besondere Schwere der Schuld in Frage – das würde seine Freilassung für viele, viele Jahre unmöglich machen.

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