Nach Jahren der beispiellosen Spaltung unter seinem Vorgänger Donald Trump hat der neue US-Präsident Joe Biden sein Amt mit einem eindringlichen Aufruf zur Einheit angetreten. Biden legte am Mittwoch vor dem US-Kapitol in Washington seinen Amtseid ab und sagte in seiner Antrittsrede, er wolle das Land mit seiner „ganzen Seele“ zusammenbringen und „die Menschen vereinen“. Er werde ein „Präsident für alle Amerikaner“ sein, versprach der 46. und älteste Präsident der US-Geschichte.
„Das ist der Tag der Demokratie, ein Tag der Geschichte und Hoffnung“, sagte der 78-jährige Demokrat. Ohne Einheit werde es in den USA aber „keinen Frieden, nur Verbitterung und Wut, keinen Fortschritt, nur erschöpfende Empörung, keine Nation, nur einen Zustand des Chaos“ geben. Er rufe „alle Amerikaner auf, sich mir anzuschließen“.
Zwei Wochen nach der Kapitol-Erstürmung durch radikale Anhänger seines Vorgängers Trump kündigte Biden zudem einen entschlossenen Kampf gegen Rassismus und „inländischen Terrorismus“ an. Wegen der Ausschreitungen am 6. Januar herrschten drakonische Sicherheitsvorkehrungen zur Amtseinführung, auch wegen der Corona-Pandemie waren die sonst üblichen Menschenmassen zur Vereidigung nicht zugelassen.
In seiner Antrittsrede hielt Biden eine Schweigeminute in Gedenken an die bereits mehr als 400.000 Corona-Toten in den USA ab. Er warnte, sein Land werde nun in die „tödlichste“ Phase der Pandemie eintreten.
Vor Biden legt seine Stellvertreterin Kamala Harris ihren Amtseid ab. Sie ist nun die erste Frau und erste Afroamerikanerin im Amt der US-Vizepräsidentin.
Biden übernimmt das mächtigste Amt der Welt in beispiellosen Krisenzeiten. Die USA sind das Land mit der höchsten Corona-Opferzahl weltweit und befinden sich in einer verheerenden Wirtschaftskrise. Die Erstürmung des Kapitols versetzte der Nation vor zwei Wochen einen Schock und überschattet auch Bidens Amtseinführung.
Aus Angst vor neuer Gewalt wurde das Kapitol weiträumig abgesperrt, 25.000 Nationalgardisten bezogen in der Hauptstadt Stellung. Die Behörden riegelten zudem den Grünstreifen zwischen Kapitol und Lincoln Memorial ab, auf dem sich bei Amtseinführungen von Präsidenten für gewöhnlich hunderttausende Menschen versammeln. Das Programm, unter anderem Auftritte der Pop-Diven Lady Gaga und Jennifer Lopez, konnten nur wenige geladene Gäste live verfolgen.
Biden wollte unmitelbar nach seiner Vereidigung 17 Dekrete und Anordnungen unterzeichnen, um die umstrittene Politik seines Vorgängers umzudrehen. Er will unter anderem die USA zurück ins Pariser Klimaschutzabkommen von 2015 führen, den von Trump angeordneten Ausstieg aus der Weltgesundheitsorganisation (WHO) rückgängig machen, den Bau der Grenzmauer zum Nachbarland Mexiko beenden und die Einreiseverbote für Menschen aus mehreren mehrheitlich muslimischen Ländern abschaffen.
Trump blieb als erster US-Präsident seit mehr als 150 Jahren der Vereidigung seines Nachfolgers fern. Der Republikaner verließ am Morgen gemeinsam mit seiner Ehefrau Melania das Weiße Haus und ließ sich mit der Präsidentenmaschine Air Force One nach Florida bringen.
„Das waren vier unglaubliche Jahre“, sagte Trump vor Familienmitgliedern, Mitarbeitern und Anhängern am Luftwaffenstützpunkt Joint Base Andrews. Erneut nahm der Rechtspopulist zahlreiche politische Erfolge für sich in Anspruch. Er wünschte der Biden-Regierung „viel Glück und viel Erfolg“ und kündigte zugleich an: „Wir werden auf irgendeine Art zurückkommen.“
Mit Trump tritt der umstrittenste US-Präsident der vergangenen Jahrzehnte ab. Infolge der Kapitol-Erstürmung sieht er sich wegen des Vorwurfs der „Anstiftung zum Aufruhr“ mit einem Amtsenthebungsverfahren konfrontiert. Seine letzten Stunden im Amt nutzte er am Dienstag unter anderem, um seinen ultrarechten früheren Chefstrategen Steve Bannon und 72 weitere Menschen zu begnadigen.
Die EU setzt derweil darauf, nach der chaotischen Amtszeit Trumps künftig wieder einen verlässlichen Verbündeten im Weißen Haus zu haben. EU-Ratspräsident Charles Michel bot Biden am Mittwoch einen „neuen Gründungspakt“ für eine bessere Zusammenarbeit an.
Auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier äußerte die Hoffnung auf eine Besserung der transatlantischen Beziehungen. „Meine Erleichterung ist groß“, sagte er. Glückwünsche zum Amtsantritt kamen aus zahlreichen Ländern, unter anderem Großbritannien und Israel.