Die drei Geständnisse des Stephan E.

Die Justitia - ein Symbol der Rechtsstaatlichkeit
Die Justitia - ein Symbol der Rechtsstaatlichkeit

Im Lauf der Aufklärung zum Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke hat der Hauptangeklagte Stephan E. drei Geständnisse abgelegt. Darin schilderte er – zum Teil noch vor dem Prozessbeginn im Juni – unterschiedliche Tatbeteiligungen. Welche Version der Wahrheit entspricht und wie die Aussagen zustande kamen, versucht der fünfte Strafsenat des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main (OLG) zu klären. Die wichtigsten Unterschiede im Überblick:

ERSTES GESTÄNDNIS (JUNI 2019)

Zehn Tage nach seiner Festnahme gesteht E. ohne anwaltliche Begleitung die Tat vor Beamten in der Justizvollzugsanstalt Kassel. Er habe Lübcke getötet und dabei allein gehandelt.

Später wirft E. seinem damaligen Verteidiger Dirk Waldschmidt vor, ihm zu diesem Geständnis geraten zu haben. Waldschmidt habe seiner Familie finanzielle Unterstützung zugesagt, wenn er seinen mutmaßlichen Komplizen Markus H., der wie E. als Rechtsextremist gilt, aus dem Geständnis heraushalte. E. wechselt seinen Verteidiger aus, Frank Hannig übernimmt nun das Mandat. Auf sein Anraten hin habe E. das erste Geständnis zurückgezogen, sagt Hannig im Januar 2020.

ZWEITES GESTÄNDNIS (JANUAR 2020)

Im Beisein Hannigs legt E. am 8. Januar vor einem Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs ein neues Geständnis ab. Er und H. seien am Abend des 1. Junis 2019 am Tatort gewesen. H. habe Lübcke im Streit versehentlich erschossen. Sein Tod sei nicht geplant gewesen. Vielmehr hätten beide den Regierungspräsidenten aufgesucht, um ihm „eine Abreibung zu verpassen“. E. habe H. die Tatwaffe übergeben. Ende Juli stimmt der Strafsenat des OLG einem Antrag E.s und seines zweiten Verteidigers Mustafa Kaplan auf Abberufung Hannigs wegen eines zerstörten Vertrauensverhältnisses zu.

Wenig später werfen E. und Kaplan Hannig vor, das zweite Geständnis konstruiert zu haben. Ziel sei es gewesen, eine Aussage H.s zu provozieren. H. wird jedoch im Oktober aus Mangel an Beweisen für seine Tatbeteiligung aus der Untersuchungshaft entlassen. Als Zeuge vor Gericht verweigert Hannig seine Aussage. Jedoch werden im Dezember 2020 Teile seiner Handakten beschlagnahmt und vor Gericht verlesen. Außerdem bestätigt die Staatsanwaltschaft Kassel im Herbst, Ermittlungen gegen einen Anwalt wegen des Verdachts der Anstiftung zur falschen Verdächtigung zu führen, ohne jedoch seinen Namen zu nennen.

DRITTES GESTÄNDNIS (AUGUST 2020)

Am 5. August, dem achten Prozesstag, verliest Kaplan vor dem OLG ein drittes Geständnis E.s. „Ich habe geschossen“, lässt der heute 47-Jährige durch seinen Verteidiger erklären. H. sei allerdings auch mit am Tatort gewesen. Wie in den beiden Geständnissen zuvor zeigt E. Reue für die Tat. Er distanziere sich von den Gedanken, die zum Mord geführt hätten. Die Radikalisierung sei von H. ausgegangen. E. erklärt sich bereit, Fragen des Gerichts und der Familie Lübcke zu beantworten. Lübckes Frau und die beiden Söhne treten im Prozess als Nebenkläger auf.

WEITERE FRAGEN

Über mehrere Prozesstage hinweg steht E. Rede und Antwort. Jedoch ergeben sich dadurch für die Hinterbliebenen Lübckes und den Senat immer wieder neue Fragen. Im Dezember kündigt der Vorsitzende Richter Thomas Sagebiel eine erneute Befragung E.s an, weil dieser sich in seinen frei vorgetragenen Antworten in Details immer wieder selbst widersprach. Die eigentlich für den 22. Dezember 2020 vorgesehene Urteilsverkündung verschiebt sich letztlich auf den 28. Januar 2021.

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