Zuerst waren es vor allem Moskau und St. Petersburg, doch inzwischen ist ganz Russland von den Protesten gegen Präsident Wladimir Putin erfasst. Ungeachtet des harten Vorgehens der Behörden gegen Demonstranten und Anhänger von Kreml-Kritiker Alexej Nawalny, wollen die Menschen am Sonntag wieder auf die Straße gehen – und das auch in der Provinz. Vertraute des inhaftierten Nawalnys, von denen viele am Freitag unter Hausarrest gestellt wurden, haben erneut zu landesweiten Protesten aufgerufen. Bereits am vergangenen Wochenende hatten zehntausende Russen in über hundert Städten gegen die Machtelite im Land demonstriert.
Als Iwan Rudnjew die tausenden Demonstranten sah, die sich trotz frostiger minus 20 Grad auf Perms Hauptstraße drängten, wurde ihm klar, dass sich etwas geändert hat. „Das hat uns umgehauen, das war wirklich neu“, sagt der 27-jährige Aktivist. Zwischen 6000 und 8000 Menschen folgten in der Industriestadt am Rande des Uralgebirges am vergangenen Wochenende dem Protestaufruf von Nawalny – und viele könnten es am Sonntag erneut tun.
Das mag für eine Stadt mit einer Million Einwohnern nicht viel erscheinen, doch örtlichen Medien zufolge handelte es sich um einen Rekord „in der jüngeren Geschichte von Perm“. Rudnjew, der Nawalnys Team angehört, hatte schon zuvor gespürt, dass sich die Stimmung änderte: „Die Menschen haben uns geschrieben, um uns ganz aufgeregt mitzuteilen, dass sie kommen würden.“
Ähnliche Szenen spielten sich im ganzen Land ab – vom sibirischen Jakutsk bis zur Krim-Halbinsel. Insgesamt gingen in mehr als hundert Städten in Russland die Menschen auf die Straße, um gegen Präsident Wladimir Putin, der seit 20 Jahren an der Macht ist, und für Nawalnys Freilassung zu demonstrieren. Die Sicherheitskräfte gingen teils brutal gegen die Protestierenden vor, mehr als 4000 Menschen wurden festgenommen.
Normalerweise beschränken sich politische Proteste auf Moskau und St. Petersburg, doch dieses Mal war es anders. Nawalny und seinem Team gelang eine bemerkenswerte Mobilisierung, wenn man bedenkt, dass die Demonstrationen verboten und das Risiko, festgenommen zu werden, nicht unerheblich waren. „Städte, von denen man es vorher nie gedacht hätte“, hätten sich der Bewegung angeschlossen, sagt der Soziologe Alexej Lewinson vom Lewada-Zentrum. „Wir haben erstmals erlebt, dass die Menschen nicht wegen einer lokalen, sondern wegen einer russlandweiten Angelegenheit massenhaft auf die Straße gehen.“
Für viele waren Nawalnys Festnahme und eine von seinem Team veröffentlichte Enthüllungs-Recherche über einen angeblichen Luxus-Palast Putins am Schwarzen Meer nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Die Frustration vieler Russen ist angesichts von Unregelmäßigkeiten bei Wahlen, einer korrupten Justiz und zunehmender Armut in den vergangenen Jahren gewachsen.
Perm ist es noch vergleichsweise gut ergangen. Die Millionenstadt hat noch immer eine starke industrielle Basis, doch das Stadtzentrum hat sich seit dem Zerfall der Sowjetunion kaum verändert. Perm sei seit den 70er Jahren abgehängt worden, klagt der Aktivist Juri Bobrow. „Damals haben wir die Triebwerke für die Proton-Raketen gebaut, die stärksten Raketen der Welt.“
Eine der Demonstrantinnen, die am vergangenen Wochenende in Perm auf die Straße gingen, ist die 31-jährige Musikerin und Übersetzerin Assja Alypowa. Eigentlich wollte sie sich immer „aus der Politik heraushalten“, sagt sie. Doch 2020 habe es „so viel Anlass zur Sorge“ gegeben. Die Verfolgung der Homosexuellen-Aktivistin Julia Zwetkowa und die Verfassungsänderung, die es Putin ermöglicht, bis 2036 an der Macht zu bleiben, hätten sie wachgerüttelt. „Ich glaube nicht, dass die Menschen für Nawalny auf die Straße gegangen sind, sondern gegen alles, womit sie unzufrieden sind“, sagt Alypowa.
Ob die Mobilisierung von Dauer ist, wird sich bereits am Sonntag zeigen. Iwan Rudnjew möchte gerne glauben, dass sich etwas ändern wird: „Es ist absolut unmöglich, die Meinung so vieler Menschen zu ignorieren.“