Seit seinem Einzug ins Weiße Haus konnte US-Präsident Donald Trump stets auf die bedingungslose Loyalität seines Stellvertreters Mike Pence zählen. Während zahlreiche Minister und Berater in den vergangenen vier Jahren bei Trump in Ungnade fielen, stand Pence in der von Affären und Skandalen reichen Amtszeit in Nibelungentreue an der Seite des impulsiven Präsidenten.
Aber die Erstürmung des Kapitols durch militante Trump-Anhänger markierte einen Wendepunkt: Seither verweigert der Vizepräsident seinem Vorgesetzten die Gefolgschaft. Kurz vor dem Ende von Trumps Mandat ist das Verhältnis der beiden Republikaner offenbar zerrüttet.
„Vizepräsident Pence ist von einem der treuesten Gefolgsleute Donald Trumps zum Staatsfeind Nummer eins in Trumps Welt geworden“, urteilte der republikanische Abgeordnete Adam Kinzinger. Pence hatte die Randale im Kongressgebäude vergangene Woche verurteilt und sich gegen Trumps Forderung gestellt, die Zertifizierung des Wahlergebnisses zu verhindern.
Stattdessen bestätigte Pence, der auch Vorsitzender des Senats ist, bei der Kongresssitzung formell den Wahlsieg des Demokraten Joe Biden. Seitdem herrscht Funkstille zwischen Trump und seinem Stellvertreter, wie US-Medien berichten.
Demnach schließt Pence sogar nicht aus, Trump wie von den Demokraten gefordert noch vor dem Ende seiner Amtszeit zu entmachten. Der Zusatzartikel 25 zur US-Verfassung ermöglicht es dem Vizepräsidenten, zusammen mit dem Kabinett den Präsidenten abzusetzen, wenn sie diesen für amtsunfähig halten.
Trump hatte seine Anhänger am Mittwoch mit der Wiederholung seiner völlig unbelegten Behauptung angestachelt, bei der Präsidentschaftswahl im November habe es massive Betrügereien gegeben. Er forderte seine Unterstützer zum Marsch auf das Kapitol auf. Militante Trump-Anhänger drangen daraufhin in das Kongressgebäude ein, Abgeordnete mussten in Sicherheit gebracht werden. Insgesamt fünf Menschen starben bei den Ausschreitungen in und um das Kapitol.
Auch für Pence war die Lage bedrohlich. Wütende Trump-Anhänger riefen, er solle gehängt werden. Doch nicht einmal diese Todesdrohungen veranlassten den Präsidenten offenbar, sich zu vergewissern, ob sein Stellvertreter in Sicherheit ist. Stattdessen machte Trump ihm seine Verfassungstreue zum Vorwurf. „Mike Pence hatte nicht den Mut zu tun, was nötig gewesen wäre, um unser Land und unsere Verfassung zu schützen“, lautete Trumps vernichtendes Urteil.
Auch Pence‘ Bereitschaft, gemäß den politischen Gepflogenheiten an der Zeremonie zur Vereidigung des künftigen Präsidenten Biden am 20. Januar teilzunehmen, dürfte Trump ein Dorn im Auge sein. Der Präsident selbst hat bereits deutlich gemacht, dass er Bidens Amtseinführung fernbleiben werde – ungeachtet seiner Ankündigung, einen „reibungslosen, geordneten und nahtlosen“ Machtwechsel sicherzustellen.
Die Arbeitsteilung zwischen Trump und Pence im Weißen Haus hatte jahrelang funktioniert. Der Präsident nannte seinen Stellvertreter einen „Fels in der Brandung“. Als Leiter der Corona-Taskforce hielt Pence auch den Kopf hin, als die Wut über das Krisenmanagement von Trumps Regierung in der Pandemie hochkochte.
Pence galt als Gegenpol zum impulsiven Präsidenten. Im Laufe der Jahre entwickelte er reichlich Routine darin, Trumps Politik zu erläutern und die von seinem Chef erzeugten Wogen wieder zu glätten. Der Ex-Gouverneur und langjährige Kongressabgeordnete steuerte die politische Erfahrung bei, die dem früheren Immobilienunternehmer fehlte. Als evangelikaler Christ stellte der Vize zudem ein wichtiges Bindeglied zur religiösen Rechten dar.
Pence werden Ambitionen auf die Präsidentschaftskandidatur 2024 nachgesagt. Offen ist, ob er die Gewalteskalation am Ende von Trumps Amtszeit auch politisch unbeschadet übersteht.