Alexej Nawalny scheint vor nichts Angst zu haben. Am Sonntag will der Oppositionspolitiker, der im Sommer nur knapp einen Giftanschlag überlebte und zur Behandlung nach Deutschland gebracht wurde, nach Russland zurückkehren. In seinem Heimatland drohen dem Kreml-Kritiker mehrere Prozesse – und die sofortige Verhaftung.
Nawalny, der seit mehr als zehn Jahren der wichtigste politische Widersacher von Russlands Präsident Wladimir Putin ist, war im August während eines Inlandsflugs zusammengebrochen. Der 44-jährige Rechtsanwalt wurde nach Deutschland ausgeflogen und in der Berliner Charité behandelt.
Labore in Deutschland, Frankreich und Schweden sowie die Organisation für das Verbot Chemischer Waffen (OPCW) bestätigten, dass Nawalny mit einem chemischen Nervenkampfstoff aus der Nowitschok-Gruppe vergiftet wurde. Nawalny wirft dem russischen Geheimdienst vor, hinter seiner Vergiftung zu stecken. Als Auftraggeber hinter dem Attentat sieht er Putin persönlich.
Seinen Ruf als furchtloser Kritiker der Mächtigen verdankt Nawalny vor allem dem Internet. Seit 2007 veröffentlicht er in seinem Blog kritische Recherchen zu dubiosen Geschäftspraktiken russischer Großkonzerne, die sich teilweise in Staatsbesitz befinden. Auch das Fehlverhalten ranghoher Funktionäre machte er im Netz publik. 2012 rief Nawalny eine Anti-Korruptions-Stiftung ins Leben.
In der schwachen russischen Opposition gibt es niemanden, der landesweit so bekannt ist wie Nawalny. Im Ausland wurde er als Anführer der Proteste gegen die umstrittene Parlamentswahl im Dezember 2011 und die Wiederwahl von Putin ins Präsidentenamt im Mai 2012 bekannt. Das „Time“-Magazin wählte Nawalny 2012 unter die hundert einflussreichsten Persönlichkeiten der Welt.
2013 kandidierte der verheiratete Vater zweier Kinder für das Amt des Moskauer Bürgermeisters und landete hinter dem Putin-Verbündeten Sergej Sobjanin auf Platz zwei. 2017 veröffentlichte Nawalny auf YouTube einen Film, in dem er dem damaligen Ministerpräsidenten Dmitri Medwedew großangelegte Korruption vorwarf. Die Enthüllungen lösten neue Massenproteste aus. Die Polizei ging teilweise mit Gewalt gegen die Demonstranten vor, es gab hunderte Festnahmen.
Nawalny selbst wurde schon mehrfach festgenommen und zu Haftstrafen verurteilt. 2013 wurde er in einem Betrugsprozess zu einer fünfjährigen Haftstrafe verurteilt, die später zur Bewährung ausgesetzt wurde. Weitere Geld- und Haftstrafen folgten, unter anderem wegen seiner wiederholten Aufrufe zu nicht genehmigten Demonstrationen. Nawalny hält die Verfahren für politisch motiviert: Wegen einer Verurteilung durfte er bei der Präsidentschaftswahl 2018 nicht gegen Amtsinhaber Putin antreten.
Trotz seiner Bekanntheit ist Nawalny auch in der russischen Opposition nicht unumstritten: Seine nationalistische Rhetorik und die Teilnahme an Aufmärschen ausländerfeindlicher Gruppierungen sorgten in vergangenen Jahren für Kritik. Viele Russen glauben zudem der Regierungsdarstellung, dass er ein Strohmann des Westens sei. Putin nennt Nawalny in der Öffentlichkeit nie beim Namen.
Tätlich angriffen wurde Nawalny schon mehrfach. 2018 unterzog er sich in Spanien einer Augenoperation, nachdem ein Angreifer ihn in Moskau mit einer Flüssigkeit bespritzt hatte.
Von den Folgen des Giftanschlags vom August erholte er sich bis zuletzt in Deutschland. Die russische Strafverfolgungsbehörde kündigte bereits an, Nawalny nach seiner Rückkehr nach Russland zu verhaften. Er habe während seines Aufenthalts in Deutschlands wiederholt gegen seine Bewährungsauflage verstoßen, sich zweimal monatlich bei den Behörden zu melden.
Nawalny hat nach eigenen Angaben nie daran gezweifelt, nach Russland zurückzukehren. Die Frage „Rückkehr oder nicht“ habe sich ihm nie gestellt, sagte der 44-Jährige. In Deutschland sei er „nur aus einem Grund“ gelandet: „Sie wollten mich töten.“