Der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Michael Roth (SPD), blickt pessimistisch auf das deutsch-russische Verhältnis. „Anfang 2021 befindet sich unser Verhältnis mit Moskau auf einem Tiefpunkt“, schrieb Roth in einem am Sonntag veröffentlichten Gastbeitrag über die Russland-Politik für den „Spiegel“. Eine deutliche Verbesserung zeichne sich nicht ab. „Nicht zuletzt auch deshalb, weil die russische Regierung daran aktuell wenig Interesse erkennen lässt“, erklärte Roth.
Im Umgang mit dem Kreml-Kritiker Alexej Nawalny habe die russische Regierung „in zynischer Weise demonstriert, dass sie die Idee politischer Freiheit als akute Bedrohung ihres Herrschaftssystems begreift“, schrieb der SPD-Politiker. Angesichts der neuen Proteste und der im Herbst anstehenden Duma-Wahlen sei zu befürchten, dass „der Kreml die Daumenschrauben weiter anzieht und zivilgesellschaftliches und politisches Engagement noch stärker beschränkt“.
Roth mahnte zugleich, im Verhältnis zu Russland keine neue Mauer hochzuziehen: „Ein breit angelegter Dialog und die Zusammenarbeit bei ausgewählten Themen sind Notwendigkeit und Chance zugleich.“
Roth schlägt dabei eine enge Abstimmung der EU mit der neuen US-Regierung vor. „Im Umgang mit Russland braucht die EU heute einen realistischen Blick auf die Gegebenheiten, geschlossenes Auftreten gepaart mit klarer Haltung und nicht zuletzt einen langen Atem, mit gezieltem Druck, wo nötig, und Angeboten der Zusammenarbeit und Entspannung, wo möglich. Dabei sollten wir uns möglichst eng mit der neuen US-Regierung abstimmen“, schrieb Roth. US-Präsident Joe Biden erwarte „von uns zu Recht, dass die EU in ihrer östlichen Nachbarschaft und in ganz Europa mehr Verantwortung übernimmt“.
Zum Streit mit den USA und einigen europäischen Staaten über das deutsch-russische Ostseepipeline-Projekt Nord Stream 2 äußerte sich Roth zurückhaltend. „Das aktuell schwer belastete Verhältnis mit Moskau und die dadurch wieder befeuerte Kritik am Bau der Gaspipeline Nord Stream 2 gilt es jetzt zum Anlass zu nehmen, die Diversifizierung endlich noch entschiedener voranzutreiben“, schrieb der SPD-Politiker. So könnten einseitige Abhängigkeiten von einzelnen Energielieferanten vermieden und ein „großen Schritt in Richtung mehr europäische Souveränität“ gemacht werden.
Roth warnte seine eigene Partei davor, sich im Umgang mit Russland auf die einstige Ostpolitik des Kanzlers Willy Brandt zu beziehen. „Auch in der SPD wird um den richtigen Kurs gerungen, fühlt sie sich doch aus guten Gründen der Ostpolitik Willy Brandts verpflichtet. Denn ‚Wandel durch Annäherung‘ hat unbestreitbar unsere Welt friedlicher gemacht und einen unverzichtbaren Beitrag zur Einigung Deutschlands und Europas geleistet“, schrieb Roth.
Heute aber drohe die Ostpolitik Brandts „zum bloßen Schlagwort zu werden – unter anderem für die nostalgisch verklärte Vorstellung, sie ließe sich eins-zu-eins auf das Hier-und-Jetzt übertragen“, schrieb Roth in seinem Gastbeitrag. Der unreflektierte Ruf nach einer Rückbesinnung verkenne, was die Ostpolitik damals tatsächlich war. „Und er ignoriert dabei allzu oft, was die Bestrebungen des Kremls heute sind“, erklärte Roth.
Russland unter Präsident Wladimir Putin trete immer expansiver und konfrontativer auf. Der Giftanschlag auf Nawalny „führt uns auf drastische Weise vor Augen, wie weit der Kreml zur Verhinderung einer starken Opposition zu gehen bereit ist“, schrieb der SPD-Politiker. An die Adresse auch seiner Partei fügte er hinzu: „Das aggressive Auftreten Moskaus nach außen geht einher mit wachsender Repression im Inneren. An diesen schmerzhaften Realitäten müssen wir uns orientieren, wenn wir uns heute die ‚Russland-Frage‘ stellen.“