Wenige Tage vor der nächsten Bund-Länder-Runde zur Corona-Politik hat RKI-Chef Lothar Wieler zu großer Vorsicht bei weiteren Öffnungsschritten gemahnt. Wochenlang seien die Infektionszahlen zurückgegangen – doch nun gebe es „deutliche Signale einer Trendumkehr“, warnte der Chef des Robert-Koch-Instituts (RKI) am Freitag in Berlin. Die Schutzmaßnahmen müssten weiter beachtet werden, „ansonsten steuern wir in eine weitere, in eine dritte Welle hinein“. Auch Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) empfahl „größtmögliche Umsicht und Vorsicht“.
Spahn regte in der gemeinsamen Pressekonferenz mit Wieler eine Debatte über den Inzidenzwert 35 an, den Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und die Ministerpräsidentinnen und -präsidenten in ihren Beratungen vor zwei Wochen als Schwelle für umfassendere Öffnungsschritte vereinbart hatten. Er sehe nicht, „dass die 35 in naher Nähe bundesweit und in vielen Bundesländern erreichbar ist“, sagte Spahn. Die Diskussion über diesen Wert „muss man führen“.
Im Kampf gegen die Pandemie sei das Land „auf einem wirklich guten Weg“ gewesen – und dann seien die besonders ansteckenden Virusmutanten hinzugekommen, sagte Spahn. RKI-Chef Wieler sagte, gerade die britische Variante sei „deutlich gefährlicher – und zwar in allen Altersgruppen“. Die Zahl der Covid-19-Patienten auf Intensivstationen gehe insgesamt zwar leicht zurück. In zwei Bundesländern steige sie aktuell aber wieder.
Wieler mahnte eindringlich, im Falle weiterer Lockerungen die bekannten Infektionsschutzregeln einzuhalten und zudem auf eine Strategie umfassenden Schnelltestens zu setzen. Nur so „kann man das Infektionsgeschehen unten halten“. Minister Spahn sagte mit Blick auf den Weg aus dem Lockdown: „Vorsicht, Impfen, Testen sind drei wichtige Bestandteile für unseren Weg.“
Wieler und Spahn wiesen darauf hin, dass es Hinweise auf erste messbare Positiv-Effekte der Impfkampagne gebe – nämlich eine sinkende Ansteckungsrate unter den besonders gefährdeten Menschen über 80 Jahre. „Das ist wahrscheinlich schon ein Effekt der Impfungen“, sagte Wieler.
Spahn sagte, die Inzidenz in dieser Gruppe sei von fast 200 Fällen pro 100.000 Menschen binnen sieben Tagen auf nun 70 gesunken. Dies zeige, dass die Strategie zur Priorisierung der älteren Bürgerinnen und Bürger bei den Impfungen aufgehe, sagte der Minister. „Das dauert länger zu Beginn, aber es rettet Leben.“ Um die Impfungen voranzutreiben, sollten sie „zeitnah“ auch in Arztpraxen verabreicht werden können.
Wieler hob einen weiteren Punkt hervor, der zu Optimismus berechtige – nämlich eine Studie aus Schottland, derzufolge der Impfstoff von Astrazeneca die Quote der Krankenhauseinweisungen von Corona-Patienten um 94 Prozent senke. Dies sei eine „absolut überragende Nachricht, die mich glücklich gemacht hat“.
Der RKI-Chef warb um Vertrauen für den Astrazeneca-Impfstoff, gegen den es in Teilen der Bevölkerung Vorbehalte gibt – etwa wegen Berichten über Nebenwirkungen wie Kopfweh und Fieber. „Besser ein, zwei Tage Kopfschmerzen, als diese verdammte Krankheit zu kriegen“, sagte Wieler.
Er warb erneut für das Impfen. Impfungen seien das „mächtigste Werkzeug“, das man derzeit in der Hand habe. Auch Schnelltests oder Selbsttests könnten alle anderen Maßnahmen nur ergänzen und nicht ersetzen.
Die Zahl der verzeichneten Neuinfektionen in Deutschland lag zuletzt bei knapp 10.000 Fällen. Dies teilte das RKI am Freitagmorgen mit. Die sogenannte Sieben-Tage-Inzidenz stieg erneut etwas an und liegt nun bei 62,6. Am Donnerstag hatte der Wert 61,7 betragen.