Trotz klarer Kritik an den jüngsten innenpolitischen Entwicklungen haben die EU-Staats- und Regierungschefs der Türkei ein weitreichendes Entgegenkommen angeboten. Sie bezeichneten bei ihrem Gipfel am Donnerstag „gezielte Angriffe auf politische Parteien und Medien“ als „schwere Rückschläge für die Menschenrechte“. Zugleich stellte die EU Präsident Recep Tayyip Erdogan aber eine verstärkte Wirtschaftszusammenarbeit und finanzielle Unterstützung in Aussicht, sollte dieser bei Konfliktthemen einen versöhnlichen Kurs verfolgen.
Die EU-Staats- und Regierungschefs steckten bei ihrem Video-Gipfel den künftigen Kurs gegenüber Ankara ab. Die EU sei „sehr dankbar“, dass Ankara jetzt im Konflikt um Gas-Bohrungen im östlichen Mittelmeer zur Entspannung beigetragen habe, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) nach den Gipfelberatungen. Trotz „Sorge“ über innenpolitische Entwicklungen und „tiefer Meinungsverschiedenheiten“ glaube die EU, dass „Sprachlosigkeit keine Antwort ist“.
Für Kritik der EU hatte in den vergangenen Tagen der Verbotsantrag gegen die pro-kurdische Partei HDP sowie der Austritt aus der Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen vor Gewalt gesorgt. Dies laufe „den Verpflichtungen der Türkei zur Achtung der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Rechte der Frauen zuwider“, erklärte der Gipfel.
Angesichts der Entspannung im Gas-Streit mit den EU-Mitgliedern Griechenland und Zypern bot die EU nun aber eine Ausweitung der Zollunion, Gespräche auf hochrangiger Ebene und zu Reiseerleichterungen für türkische Bürger an. Die Staats- und Regierungschefs wollen aber bei allen Angeboten „in einer abgestuften, verhältnismäßigen und umkehrbaren Weise“ vorgehen.
Merkel sprach bei der Modernisierung der Zollunion von einem „zweistufigen Ansatz“. „Wir machen einen ersten Schritt jetzt und geben ein Mandat, um die Beziehungen weiter zu entwickeln, und wollen dann im Juni Beschlüsse fassen“, sagte sie. Dabei werde die EU „natürlich auch schauen, wie sich die Entspannung im östlichen Mittelmeer weiter entwickelt“.
In der Gipfel-Erklärung warnten die Staats- und Regierungschefs Ankara vor „erneuten Provokationen oder einseitigen völkerrechtswidrigen Handlungen“. Sie könnten nach früheren Beschlüssen weitere Sanktionen zum Gas-Streit im östlichen Mittelmeer zur Folge haben.
Die EU-Kommission wurde zudem beauftragt, einen Vorschlag für die weitere Finanzhilfe für die Versorgung der 3,7 Millionen Syrien-Flüchtlinge in der Türkei auszuarbeiten. In einem Flüchtlingsabkommen von 2016 hatte die EU Ankara bereits sechs Milliarden Euro zugesagt, die inzwischen weitgehend ausgegeben oder fest verplant sind. In dem neuen Finanzpaket sollen nun auch Nachbarländer wie Jordanien und Libanon berücksichtigt werden.
Kritik an dem Angebot an Erdogan kam aus dem Europaparlament. Anstatt „Solidarität mit der türkischen Bevölkerung und der demokratischen Opposition“ zu üben, bereite die EU „einen neuen Pakt der Schande mit dem Erdogan-Regime“ vor, schrieb Linken-Ko-Fraktionschef Martin Schirdewan nach dem Beschluss auf Twitter. Auch Vertreter von Sozialdemokraten und Grünen hatten zuvor ein Entgegenkommen wegen der jüngsten innenpolitischen Entwicklungen abgelehnt.
Kein Wort verlieren die EU-Regierungen in der Erklärung zur Zukunft der Beitrittsverhandlungen mit Ankara. Sie waren nach den Massenverhaftungen von Erdogan-Gegnern infolge des vereitelten Militärputsches von 2016 auf Eis gelegt worden.