Die Ukraine hat angesichts der russischen Truppenverstärkungen an ihrer Grenze erneut ihre Aufnahme in die EU und die Nato gefordert. „Wir können nicht unendlich im Wartesaal der EU und der Nato sitzen“, sagte Staatschef Wolodymyr Selenskyj der französischen Zeitung „Le Figaro“ vor Beratungen mit Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron am Freitag. Zuvor hatte sein Außenminister Dmytro Kuleba gesagt, die Ukraine sehe sich in ihrer Existenz bedroht.
Moskau drohe Kiew „offen mit Krieg und mit der Zerstörung des ukrainischen Staats“, sagte Kuleba am Donnerstag bei einem Treffen mit seinen Kollegen aus den drei baltischen Staaten. „Die rote Linie für die Ukraine ist unsere Staatsgrenze. Sollte Russland diese rote Linie überschreiten, wird es leiden“, fügte der Außenminister hinzu.
In der Ostukraine gibt es seit Februar wieder verstärkt Kämpfe zwischen pro-russischen Rebellen und der Regierungsarmee. Kiew und seinen westlichen Verbündeten bereitet zudem die Verlegung zehntausender russischer Soldaten an die ukrainische Grenze große Sorgen.
Selenskyj sagte dem „Figaro“, es sei angesichts der „gewaltsamen Aggression“ Russlands an der Zeit, „einen Gang höher zu schalten und uns einzuladen, der EU und der Nato beizutreten“.
Am Freitag schalten sich Deutschland und Frankreich wieder in den Konflikt ein, in dem sie seit Jahren versuchen zu vermitteln. Nach einem Treffen von Macron mit Selenskyj in Paris soll Merkel per Videokonferenz zugeschaltet werden, wie das französische Präsidialamt mitteilte.
Merkel und US-Präsident Joe Biden hatten bereits am Mittwoch in einem Telefonat über die Lage im Osten der Ukraine beraten. Sie riefen Russland auf, seine Truppenverstärkungen wieder abzubauen. Nur so könne eine „Deeskalation der Situation“ erreicht werden, erklärte Regierungssprecher Steffen Seibert.
Der ukrainische Botschafter in Deutschland forderte angesichts der russischen Truppenbewegungen mehr militärische Unterstützung des Westens. „Die Lage ist katastrophal“, sagte Andrij Melnyk am Donnerstag im Deutschlandfunk. Moskau habe inzwischen knapp 90.000 Soldaten an der Grenze zur Ostukraine sowie auf der annektierten Halbinsel Krim und in der von pro-russischen Kämpfern kontrollierten Donbass-Region mobilisiert, sagte der Botschafter. Er berief sich dabei auf Einschätzungen der ukrainischen Geheimdienste.
Melnyk betonte, Kiew brauche vom Westen nicht nur „Solidaritätsbekundungen“, sondern auch militärische Unterstützung. „Wir brauchen modernste Waffensysteme, um unsere Verteidigung zu stärken“, sagte der Diplomat.
Der Kommandeur des US-Europa-Kommandos in Stuttgart, General Tod Wolters, nannte das Risiko für einen russischen Einmarsch in der Ukraine innerhalb der nächsten Wochen „gering bis mittel“. Er sei angesichts der zunehmenden Spannungen jedoch „sehr besorgt“, sagte der General bei einer Anhörung durch das US-Repräsentantenhaus.
Moskau und Kiew machen sich gegenseitig für die Eskalation der Gewalt in der Ostukraine verantwortlich. Nach Angaben der ukrainischen Regierung wurden seit Jahresbeginn bei Gefechten in dem Konfliktgebiet 28 ukrainische Soldaten getötet und 68 weitere verletzt.
Im gesamten vergangenen Jahr waren in der Ostukraine 50 ukrainische Soldaten getötet worden. Insgesamt kamen seit Beginn des Konflikts 2014 bereits 13.000 Menschen gewaltsam ums Leben.