Die Ankündigung von US-Präsident Joe Biden, bis zum 20. Jahrestag der Terroranschläge vom 11. September 2001 die US-Truppen aus Afghanistan abzuziehen, löst bei denen, die das Ende des internationalen Militäreinsatzes herbeigesehnt haben, Erleichterung aus. Bei vielen aber weckt der Abzugsplan zugleich große Befürchtungen um die Zukunft des von Gewalt geplagten Landes am Hindukusch:
Wird der Krieg nun tatsächlich vorbei sein?
Das ist unwahrscheinlich. Da es keinen dauerhaften und stabilen Waffenstillstand zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung gibt, befürchten Beobachter, afghanische Politiker und Bürger, dass das Land wieder in einen Bürgerkrieg stürzen wird.
„Der Krieg wird sich verschärfen, hässlicher werden – und sich hinziehen, bis die Taliban die Macht ergreifen, was auch immer übrig ist von Kabul, anderen Provinzhauptstädten und Bezirken“, sagt der unabhängige Afghanistan-Experte Nischank Motwani. „Der US-Abzug wird jede Hoffnung von Afghanen torpedieren, die an eine die Macht teilende Regierung, Versöhnung oder wirklichen Frieden glauben.“
Nach Angaben der UN-Hilfsmission für Afghanistan wurden in den ersten drei Monaten dieses Jahres 573 Zivilisten getötet und 1210 verletzt – und nur wenige glauben an einen Rückgang der Gewalt. „Die bittere Erfahrung der Vergangenheit wird sich wiederholen“, sagt etwa Parlamentspräsident Mir Rahman Rahmani. Auch der 34-jährige Basir Ajubi aus Kabul ist pessimistisch: „Ich habe die Hoffnung aufgegeben, jemals in meinem Leben Frieden zu erleben.“
Können die afghanischen Truppen ohne das US-Militär Sicherheit garantieren?
Das ist unklar. Nach Angaben der afghanischen Behörden sind die 300.000 Soldaten und Polizisten des Landes für 98 Prozent aller Einsätze gegen die Aufständischen verantwortlich. Bei den Kämpfen ist die US-Luftwaffe jedoch ein zentraler Faktor. Sie bietet bei den Bodeneinsätzen regelmäßige und wichtige Unterstützung aus der Luft – vor allem, wenn die afghanischen Truppen in die Defensive geraten sind.
Unter dem Kommando von Präsident Aschraf Ghani könne ihr Kampfeswille ohne US-Unterstützung getestet werden, sagen manche Experten. „Solange sie bezahlt werden, können sie überleben“, sagt der afghanische Politologe Fawad Kotschi. „Aber die Frage ist nicht, ob sie es können, sondern ob das korrupte System und die Führung überleben können.“
Die Taliban kontrollieren weite Teile des ländlichen Raums und strategisch wichtige Straßen. In den Städten sorgen sie mit fast täglichen Autobombenanschlägen oder gezielten Tötungen für Angst und Schrecken.
Gibt es für Afghanistan einen Weg zur Demokratie?
Falls ja, hat er viele Gabelungen. Präsident Ghani hat einen Drei-Stufen-Plan erarbeitet, der eine politische Einigung und eine Waffenruhe mit den Taliban vorsieht, bevor eine Präsidentenwahl und die Bildung einer „Friedensregierung“ stattfinden können.
Die USA favorisieren eine Übergangsregierung unter Einbeziehung der Taliban und für die Zukunft des Landes einen Konsens zwischen allen Konfliktparteien. Die Taliban bestehen hingegen auf einer Rückkehr zu einem Emirat nach strengen islamischen Regeln unter Führung eines religiösen Ältestenrats.
Seit dem Sturz der Taliban 2001 hat das Land vier Präsidentschaftswahlen erlebt, Millionen Afghanen nahmen bereitwillig ein pluralistisches, demokratisches System an. Experten befürchten nun, dass die demokratischen Errungenschaften der vergangenen zwei Jahrzehnte mit der Rückkehr der Taliban verloren gehen könnten.
Wie sind die wirtschaftlichen Aussichten?
Afghanistan ist eines der ärmsten Länder der Welt, hoch verschuldet und vollständig abhängig von ausländischer Hilfe. Zwar verfügt das Land über Bodenschätze, die China und Indien gerne ausbeuten würden. Allerdings war die Sicherheitslage nie stabil genug, um auf diese Weise die Staatskassen zu füllen.
Im November sagten Geberländer Afghanistan Unterstützung bis 2024 zu, aber wegen des Abzugs der ausländischen Truppen wird befürchtet, dass die Hilfszusagen nicht mehr eingehalten werden.
Und was ist mit Afghanistans Frauen?
Es gibt die breite Befürchtung, dass auch sie die Errungenschaften der vergangenen beiden Jahrzehnte verlieren könnten. Die Taliban verbannten bis zu ihrem Sturz 2001 Mädchen aus Schulen und steinigten Frauen wegen Ehebruchs zu Tode. Heute gibt es in Afghanistan Politikerinnen, Aktivistinnen, Richterinnen oder Journalistinnen.
Die Taliban erklären, sie respektierten Frauenrechte – wenn diese im Einklang mit islamischem Recht stünden. Aktivisten verweisen darauf, dass dieses in der muslimischen Welt sehr unterschiedlich ausgelegt wird.
„Wenn sie sagen, dass sie die Frauenrechte schützen werden, werden sie dies entsprechend ihrer Auslegung der Scharia tun“, sagt die afghanische Wissenschaftlerin Mariam Safi. „Diese Interpretation von Frauenrechten wird nicht anders sein als die, die wir von der Taliban-Herrschaft kennen.“