Anhaltender Raketenbeschuss aus dem Gazastreifen und massive israelische Vergeltungsangriffe: Angesichts der jüngsten Gewalteskalation mit mehr als 50 Toten wächst die Sorge, dass die Auseinandersetzungen in einen neuen Krieg zwischen Israel und der Hamas münden könnten. Israels Verteidigungsminister Benny Gantz kündigte am Mittwoch weitere Angriffe an, um eine „vollständige“ Ruhe im Gazastreifen zu erzwingen. Die Bundesregierung betonte Israels Recht auf Selbstverteidigung.
Der UN-Nahost-Koordinator Tor Wennesland hatte zuvor gewarnt, Israel und die Hamas steuerten auf einen neuen Krieg zu. Der UN-Sicherheitsrat wollte bei einer Dringlichkeitssitzung am Mittwoch über die Lage in Nahost beraten.
Nach israelischen Angaben feuerten die militanten Palästinenserorganisationen wie die Hamas und der Islamische Dschihad seit Montag mehr als tausend Raketen in Richtung Israel ab. Viele von ihnen wurden von der Raketenabwehr abgefangen, während andere in Wohngebieten einschlugen. In Tel Aviv und in umliegenden Städten heulten am Dienstagabend die Alarmsirenen, am internationalen Flughafen von Tel Aviv wurde der Flugverkehr vorübergehend eingestellt.
In Israel wurden insgesamt fünf Menschen durch den Raketenbeschuss getötet, unter ihnen eine 16-jährige arabische Israelin und ihr Vater in der Stadt Lod. Als Reaktion auf die Attacken flog die israelische Luftwaffe die schwersten Angriffe seit dem Gaza-Krieg 2014. Sie bombardierte bei hunderten Einsätzen Einrichtungen der radikalislamischen Hamas und anderer militanter Gruppen im Gazastreifen.
Dabei wurde unter anderem ein Hochhaus im Stadtzentrum von Gaza zerstört. Das Gebäude, in dem sich auch mehrere Büros der Hamas befanden, stürzte vollständig ein, wie Journalisten der Nachrichtenagentur AFP berichteten. Nach palästinensischen Angaben wurden bei den Luftangriffen insgesamt 48 Menschen getötet, unter ihnen 14 Kinder. Zudem gab es mindestens 230 verletzte Palästinenser und hundert verletzte Israelis.
Auslöser der jüngsten Gewalteskalation ist die drohende Zwangsräumung von rund 30 Palästinensern aus ihren von jüdischen Israelis beanspruchten Wohnungen in Ost-Jerusalem. Bei den heftigsten Zusammenstößen seit Jahren zwischen israelischen Sicherheitskräften und Palästinensern in Ost-Jerusalem waren in den vergangenen Tagen hunderte Palästinenser und dutzende Polizisten verletzt worden.
Auch im von Israel besetzten Westjordanland nahmen die Spannungen zu. Dort wurden drei Palästinenser erschossen, zwei von ihnen wurden bei Zusammenstößen mit der Armee nahe Nablus und Hebron getötet.
Die Lage verschärfte sich durch Zusammenstöße in mehreren jüdisch-arabischen Städten, in denen Demonstranten mit palästinensischen Flaggen durch die Straßen zogen, Autos anzündeten und sich Auseinandersetzungen mit der Polizei lieferten. In Lod verhängten die israelischen Behörden in der Nacht zum Mittwoch den Ausnahmezustand. In der im Zentrum des Landes gelegenen Stadt war es nach dem gewaltsamen Tod eines arabischen Israelis zu Ausschreitungen der arabischen Minderheit gekommen.
Der israelische Präsident Reuven Rivlin verurteilte die Gewalt mit scharfen Worten. In Lod habe ein „Pogrom“ stattgefunden, erklärte das Staatsoberhaupt. Die derzeitigen Unruhen im Land würden durch einen „blutrünstigen arabischen Mob“ verursacht, der Menschen verletze und sogar „heilige jüdische Orte“ angreife. Die sei „unverzeihlich“.
Israels Verteidigungsminister Gantz kündigte weitere Angriffe auf militante Palästinensergruppen in dem Küstengebiet an. Die Armee werde ihre Bombardements fortsetzen, um eine „vollständige und langfristige Ruhe“ zu erzwingen, sagte Gantz. „Erst wenn wir dieses Ziel erreicht haben, werden wir über eine Waffenruhe reden können.“ Hamas-Führer Ismail Hanijeh erklärte, falls Israel die Lage eskalieren lassen wolle, „dann sind wir bereit dafür“.
Die Bundesregierung hob am Mittwoch Israels Recht auf Selbstverteidigung hervor. Die fortdauernden Angriffe auf israelische Städte seien durch nichts zu rechtfertigen, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert am Mittwoch in Berlin. „Israel hat das Recht, sich im Rahmen der Selbstverteidigung gegen diese Angriffe zu wehren.“
Die internationalen Appelle zur Zurückhaltung verhallten bislang ungehört. Ägypten und Katar, die bereits in früheren Konflikten zwischen Israel und der Hamas vermittelt hatten, bemühten sich diplomatischen Quellen zufolge um eine Beruhigung der Lage.
Die französische Regierung appellierte an die USA, sich um eine Deeskalation zu bemühen. Washington habe den größten diplomatischen Einfluss, sagte Europa-Staatssekretär Clément Beaune am Mittwoch dem TV-Sender France 2. Aber auch Europa müsse „präsenter“ sein, um schnell ein Ende der Gewalt zu erreichen.