Beinahe hätte Frankreich Linksverkehr bekommen – daran erinnern ein Historiker und eine Verkehrsexpertin anlässlich des Inkrafttretens der französischen Straßenverkehrsordnung am Donnerstag vor 100 Jahren. Denn 1912 hatte eine Expertenkommission zunächst vorgeschlagen, sich dem englischen Vorbild anzuschließen. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Idee dann aber nach hitzigen Debatten verworfen.
In der am 27. Mai 1921 per Dekret in Kraft getretenen Straßenverkehrsordnung wird das Prinzip festgeschrieben, sich „rechts zu halten“. Allerdings wurde es von den Behörden noch bis 1932 toleriert, in der Mitte der Straße zu fahren.
Der Historiker Jean Orselli sagt, spätestens ab 1920 sei es mit damals mehr als 330.000 Autos in Frankreich notwendig geworden, den Verkehrsfluss zu regulieren. „Das Zusammenspiel mit Karren, Kutschen, Fußgängern und Tieren war unhaltbar geworden“, betont er. „Vorher hatte jede Kommune ihre eigenen Verkehrsregeln, aber das führte zu haarsträubenden Absurditäten, deshalb wurden nationale Regeln nötig.“
Die Verkehrsforscherin Anne Kletzlen erinnert daran, dass der neue Regelkatalog auf den erbitterten Widerstand von „Autoherstellern und den ersten Autofahrergruppen“ stieß. Insbesondere hätten sie sich gegen allgemeine Geschwindigkeitsbegrenzungen gewehrt, wie sie bereits seit 1899 galten: Tempo 30 auf Landstraßen und Tempo 20 in der Stadt. „Die Fahrzeuge gehörten wohlhabenden Leuten, die bei Spritztouren auf dem Land Bauern und Hühner erschreckten und Unfälle verursachten“, sagt Kletzlen.
Doch die Autolobby hatte Erfolg: In der Verkehrsordnung von 1921 wird jeder Fahrer lediglich aufgerufen, „Herr seines Fahrzeugs“ zu bleiben. Erst 1974 wurde in Frankreich das heute gültige Tempolimit von 130 Stundenkilometern auf Autobahnen eingeführt und von 90 km/h auf Landstraßen.
Noch heute erregt das Tempolimit in Frankreich die Gemüter: Unter Präsident Emmanuel Macron führte die Regierung 2018 Tempo 80 auf Landstraßen ein, um die Zahl der Verkehrstoten zu senken. Sie löste damit aber wütende Massenproteste der „Gelbwesten“ aus und musste schließlich zurückrudern: Nun können die Verwaltungsbezirke eigenständig über Tempo 80 oder 90 entscheiden, was zu einem Flickenteppich in Frankreich geführt hat.
Kürzlich schlug ein Bürgerkonvent zudem vor, zum Klimaschutz auf Autobahnen ein Tempolimit von 110 statt 130 einzuführen. Wegen der Erfahrung mit den Landstraßen griff Präsident Macron dies jedoch in einem neuen Klimagesetz nicht auf.
Auf Druck der Autolobby wurde mit dem 1922 eingeführten „Führerschein“ auch das Mindestalter gesenkt. Autofahrer in Frankreich mussten demnach 18 Jahre alt sein und nicht mehr 21, um die Prüfung abzulegen. Das Motorradfahren wurde ab 16 Jahren erlaubt.