Die deutsche Polizei hat im vergangenen Jahr einen deutlichen Anstieg bei der Verbreitung von kinderpornografischem Material registriert. Die Zahl der Fälle erhöhte sich gegenüber dem Vorjahr 2019 um 53 Prozent auf knapp 18.800, wie aus einer am Mittwoch veröffentlichten neuen Sonderauswertung der polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) hervorgeht. Der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, nannte die Entwicklung „unerträglich“.
Das Internet werde mittlerweile „überschwemmt“ von einer Masse an kinderpornografischem Material, das die Kapazitäten der Polizei überfordere, sagte Rörig bei der Vorstellung der Daten in Berlin. Hinter den Zahlen verberge sich „zehntausendfaches Leid“ von Kindern und Jugendlichen. Zugleich zeigten diese nur einen „kleinen Ausschnitt einer unerträglichen Realität“. Die Polizei brauche deutlich mehr Ressourcen, außerdem müsse die Politik endlich eine nationale Bekämpfungsstrategie entwickeln.
Der Präsident des Bundeskriminalamts (BKA), Holger Münch, sagte bei der gemeinsamen Vorstellung der Sonderauswertung mit Rörig, er rechne in den kommenden Jahren mit einem weiteren Anstieg der Fallzahlen. Die technischen Verfahren zur Identifizierung von verdächtigen Dateien im Netz würden besser, zugleich werde die internationale Kooperation der Ermittler enger. Ab 2022 griffen in Deutschland zudem neue Melderegeln für IT-Konzerne.
Nach BKA-Angaben war die Zunahme gegenüber dem Vorjahr unter anderem auf vermehrte Hinweise der halbstaatlichen US-Organisation NCMEC an deutsche Ermittler zurückzuführen. Diese sammelt systematisch Verdachtsfälle, wobei sie mit den großen Internetanbietern und den sozialen Netzwerken kooperiert. Ein weiterer Faktor waren demnach ausgedehnte Ermittlungen gegen Kinderpornonetzwerke in Deutschland sowie eine Entwicklung unter Jugendlichen, derartiges Material ohne pädosexuelle Motivation untereinander zu teilen – etwa als Mutprobe.
Auch in anderen Deliktsfeldern verzeichnete die Auswertung eine Zunahme von Verbrechen an Kindern und Jugendlichen. So stieg die Zahl der Ermittlungen wegen sexuellen Missbrauchs laut Rörig um knapp sieben Prozent auf mehr als 14.500. Bei der Misshandlung von Schutzbefohlenen gab es ein Plus von zehn Prozent auf 4900. Zudem starben 152 Kinder und Jugendliche bei Tötungsdelikten. Davon waren 79 vorsätzlich, 73 fahrlässig.
Nach Angaben Münchs bewegen sich die Zahlen bei diesen Delikten trotz der Anstiege weiterhin etwa im Bereich eines über die Jahre relativ stabilen Schwankungskorridors, jedoch in dessen oberem Bereich. Der BKA-Chef verwies zudem darauf, dass die PKS generell nur das der Polizei bekannte „Hellfeld“ abbilden könne.
Bundesjustiz- und -familienministerin Christine Lambrecht (SPD) erklärte, die PKS-Auswertung zeige ein „erschreckendes Ausmaß sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche“. Deshalb werde der Verfolgungsdruck verschärft. Noch vor der Sommerpause werde der Bundestag ihren Gesetzentwurf beschließen, der einen Straftatbestand für den Betrieb krimineller Handelsplattformen schaffe. Zudem müsse die Gesellschaft überall aufmerksam sein.
Münch betonte, bei Kindesmissbrauch und -misshandlung stammten die Täter oft aus dem sozialen Umfeld der Opfer. Das erschwere die Aufklärung. Aussagen zu kausalen Zusammenhängen mit der Corona-Pandemie und Lockdownmaßnahmen ließen sich anhand der PKS-Daten allerdings nicht machen. Unter anderem sei die PKS eine sogenannte Ausgangsstatistik, für die der Abschluss der entsprechenden Ermittlungen durch die Polizei maßgeblich sei. Der Zeitpunkt der eigentlichen Tat sei hingegen nicht erheblich.
Die Deutsche Kinderhilfe forderte Anstrengungen im Bereich der Prävention. „Das bedeutet eine verstärkte Investition in die Kinder- und Jugendhilfe“, erklärte deren Ehrenvorsitzender Rainer Becker. Er verwies darauf, dass nahezu ein Drittel der Missbrauchstaten an Kindern von Kindern sowie Jugendlichen begangen würden. Dies zeige, wie früh gehandelt werden müsse.
Auch die FDP forderte eine bessere Ausstattung von Ämtern im Bereich des Kinderschutzes. Funktionierenden Warnsystemen komme „eine Schlüsselfunktion“ zu, erklärte die Vizevorsitzende der FDP-Bundestagsfraktion, Katja Suding. Dort dürfe nicht gespart werden. Zudem seien mehr Anlaufstellen und Therapieplätze nötig.