Bundesernährungsminister Cem Özdemir hat einen Gesetzesentwurf für mehr Kinderschutz in der Werbung vorgestellt. Geplant ist, die an Kinder gerichtete Lebensmittelwerbung einzuschränken, weil sie zum Konsum von Süßigkeiten und Snacks verführt, die zu viel Zucker, Fett oder Salz enthalten und hochverarbeitet sind. Lotte Rose, Essens- und Körperforscherin an der Frankfurt University of Applied Sciences, geht dies nicht weit genug. Nicht die Werbung allein sei das Problem, sondern die Lebensmittelindustrie.
Rein marktwirtschaftliche Interessen im Vordergrund
Der Protest gegen das Gesetzesvorhaben erfolge aus rein marktwirtschaftlichen Interessen, so die Wissenschaftlerin. „Dass die entsprechenden Lobbygruppen aufschreien, geschenkt! Spannend ist jedoch, welche komplizierten Schachzüge der Minister machen muss, um seinen Zugriff aufs Marketing legitim vorbringen zu können“, so die Professorin. „Mit der Gesundheit unserer Kinder bringt er einen Wert in Anschlag, der erhebliches Gewicht hat und nicht so leicht vom Tisch zu wischen ist. Dass es Kindern in unserer Gesellschaft gut gehen soll, ist breiter ethischer Konsens. Konsens ist ebenso, dass die Kindergesundheit durch die Lebensmittelindustrie dramatisch gefährdet sein soll. Auch der Gesetzesvorstoß nutzt dieses verbreitete Horror-Narrativ der kranken und verfetteten Kindergeneration, um die Dringlichkeit dieser Maßnahme einsichtig zu machen. Ob Kinder heute tatsächlich gesundheitlich so viel gefährdeter sind als früher, lässt sich durchaus kritisch hinterfragen. Entscheidend ist letztlich, dass der staatliche ‚David‘ wohl dieses dramatisierende Narrativ als eine symbolische ‚Bazooka‘ braucht, um den Goliath des Marktes in seine Schranken weisen zu können.“
Diskussionen rund um das geplante Werbeverbot
Die aufgeheizte Diskussion um das Werbeverbot lasse das grundsätzliche Problem außer Acht. „Ob die Kinderernährung gesünder wird, wenn Kinder weniger der Werbung für ungesunde Nahrungsprodukte ausgesetzt sind, darf bezweifelt werden. Denn es gibt sie ja weiter, all die schädlichen Nahrungsprodukte. Sie stehen in den Regalen der Läden, sie stehen im Schulkiosk und den Vorratsschränken der Familien und Großeltern. Sie ‚winken‘ aufdringlich mit ihren faszinierenden Verpackungen, und sie schmecken einfach unwiderstehlich gut“, so Rose. „Daher sind die angekündigten Werbebeschränkungen allein ein zahnloser Tiger. Sie sorgen für weniger Verführungen, aber nicht dafür, dass die schädlichen Nahrungsprodukte aus den Kinderwelten verschwinden.“ Genau das müsse aber das Ziel sein, so die Professorin. „Alkohol und Zigaretten sind für Kinder verboten. Das verhindert nicht, dass Kinder Alkohol trinken und rauchen. Es erschwert aber den Zugang erheblich, wie es auch sehr viel deutlicher markiert, dass unsere Gesellschaft es ernst meint mit dem Gesundheitsschutz für Kinder.“
Debatte muss ausgeweitet werden
Die Debatte um gesunde Ernährung sollte sich laut Rose nicht beschränken auf Menschen unter 14 Jahren. „Warum sollen die schädlichen Nahrungsprodukte nur für Kinder so schädlich sein? Warum kapriziert sich das Werbeverbot so sehr auf Kinder, wo doch Erwachsene bekanntlich kaum anders essen als Kinder? Glauben wir tatsächlich, dass diese Nahrungsprodukte Erwachsenen nichts anhaben können?“
„Es wäre natürlich das Beste für Kinder und Erwachsene, wenn unsere Ernährung anders aussähe, als sie ist. Aber wir leben in keiner Diktatur, die ihrer Bevölkerung das Essen vorschreiben kann, sondern in einer Demokratie, in der Interessen verhandelt werden müssen. Wir wissen, dass hierbei die Interessen des Marktes sehr mächtig sind. Dass das Bundesgesundheitsministerium sich nun mit diesen dennoch anlegt, dass es wagt, fürsorgliche Interessen des Staates gegen Profitinteressen zu behaupten, ist mutig und wegweisend.“, so die Essensforscherin.
Natürlich könne man beklagen, dass es zu wenig ist und die praktische Umsetzung handwerklich ziemlich schwierig wird. „Aber vielleicht ist es der Beginn von Mehr – einem tatkräftigen Mehr an Auflagen für die Agrar- und Lebensmittelindustrie – zum Schutz der Kinder, Erwachsenen und letztlich auch zum Schutz des Planeten.“