“Berch” seit 1755: Wie Erlangens jahrhundertealtes Volksfest niemals aus der Puste kommt

Erlanger Bergkirchweih (über ETM/Sabine Ismaier)
Erlanger Bergkirchweih (über ETM/Sabine Ismaier)

Am 21. April 1755 fiel der Beschluss: Der alljährliche Pfingstmarkt sollte nicht länger in der engen Altstadt stattfinden, sondern auf den luftigen Südhang des Burgbergs umziehen. Die Begründung war so pragmatisch wie zukunftsweisend – mehr Platz, bessere Wege und kühle Getränke in den Felsenkellern. Gemeinsam mit dem traditionellen „Vogelschießen“ der Erlanger Schützenkompanie entstand ein neues Pfingstfest, das die Bürger bald nur noch als „Bergkirchweih“ kannten.

Den Namen verlieh man ihm, nachdem sich die Kirchenväter über die weltliche Bezeichnung „Pfingstmarkt“ mokiert hatten: Aus dem Marktplatz wurde die Kirchweih – und weil sie fortan auf dem Burgberg stattfand, eben die „Bergkirchweih“.

Kühle Keller, heißer Trubel: Die Felsenkeller als Geheimwaffe

Kaum hatten sich die ersten Besucher auf den Hängen des Burgbergs versammelt, setzte ein weiterer Anreiz zum Feiern ein: Die natürlichen Felsenkeller, die in den weichen Sandstein hineingetrieben waren. Schon im ausgehenden 18. Jahrhundert herrschte dort selbst im Hochsommer eine fast konstante Temperatur, die ideale Bedingungen zum Lagern und Servieren von Bier bot. Manche Stollen reichen heute noch fast 500 Meter in den Berg hinein. Bis ins 19. Jahrhundert wurde das Eis von den Teichen auf der anderen Bergseite herangeschafft, um das Gebräu zu kühlen. Kein Wunder, dass schon bald der „Berch“ für sein spritzig-frisches Bier berühmt war – weit über Franken hinaus.

Stürme, Hunger und Herrschersterben: Erste Auf und Abs

Doch das neu geschaffene Fest war nicht ohne anfängliche Rückschläge: In den Hungerjahren 1771 und 1772 fiel die Kirchweih aus, weil die Menschen kaum Brot hatten und der bunte Rummel fehl am Platz schien. 1778 musste man kurzfristig verschieben, als ein Gewitter den Festplatz unter Wasser setzte. Und 1886, als König Ludwig II. verstarb, wurde der Pfingstmontag zum Tag der Trauer erklärt – aus Respekt brach man die Kirchweih vorzeitig ab. All diese Unterbrechungen waren erster Vorgeschmack auf eine wechselvolle Geschichte, in der Kriege, Hungersnöte und sogar technische Neuerungen das Fest immer wieder ins Wanken brachten.

Zwischen Anatomieschau und Kältemaschine: Das 19. Jahrhundert

Im 19. Jahrhundert erweiterte die Bergkirchweih ihr Unterhaltungsangebot: Neben dem Bier öffnete die Universität ihre Anatomische Sammlung und lockte Besucher mit einer makabren Schau zwischen Knochen und Präparaten – ungewöhnlich für ein Volksfest, aber jahrzehntelang ein kleiner, aber beständiger Anziehungspunkt. Gleichzeitig begann die technische Revolution: 1876 wurde die erste Kältemaschine erfunden, und plötzlich verlor der Aufwand, Eis und Felsenkeller zu nutzen, an Reiz. Um 1900 schloss der letzte der historischen Keller, der Erlanger „Bierberg“ geriet fast in Vergessenheit. Doch es sollte eine zweite Blüte geben – davon ahnten die wenigsten.

Kriegszeiten und Neuanfang: 1914 bis 1950

Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs kam die Bergkirchweih 1915 zum Erliegen; erst 1921 sah man auf dem Burgberg wieder Festzelte und Bierbänke. Doch schon 1940, im Schatten des Zweiten Weltkriegs, musste die Kirchweih erneut pausieren. Erst 1946 wagten die Erlanger einen zaghaften Neustart – Bier war knapp, Krüge rar, und ein strenges Kontingent sorgte für dünne Gerstensäfte. Schon 1947 konnten die Festmacher wieder halbwegs normale Verhältnisse schaffen. Doch die Erinnerung an die knappen Jahre saß tief: Bis Mitte der 1950er kümmerten sich Privatleute und Brauereien darum, die uralten Kellerzugänge wieder freizulegen und sanieren zu lassen.

Entla’s Keller als Pionier: Die Rückkehr des Felsenbiers

1950 trat Heinrich Engelhardt in Aktion, bald arbeitete dessen Sohn Friedrich unermüdlich daran, den Eingangsstollen des einst so legendären Entla’s Keller freizuschaufeln. Er legte den Grundstein dafür, dass der Keller noch heute eine Schankwirtschaft ist – nicht nur während der Kirchweih, sondern das ganze Jahr über. Mit viel Manpower und Liebe zum Detail wurden steile Stiegen, historische Bögen und kühle Gewölbe wieder begehbar. Inzwischen ist der Entla’s Keller ein Aushängeschild: Wer im Juni Bier am Fass zapft, will den ursprünglichen Spirit der Bergkirchweih spüren – und das mitten im modernen Erlangen.

Jubiläen, Pandemie und die Bilanz der 17 Ausfälle

2005 feierte man das 250-jährige Jubiläum – wohlwissend, dass die Bergkirchweih nie ununterbrochen stattgefunden hatte. Kriege, Hungerjahre und schließlich die Absagen 2020 und 2021 wegen Corona summierten sich auf 17 Ausfälle. Dennoch rechneten die Organisatoren genau nach: Auch wenn es erst im 261. Jahr 250 Kirchweihen gewesen waren, stand unumstößlich fest, dass der Berg zu Pfingsten 1755 zum allerersten Mal rief. In diesem Bewusstsein versteht man die stolze Zahl gleich doppelt: 250 Jahre Tradition – und doch so lebendig, als wären es nur 200.

Traditionen, die weiterleben: Fassanstich und Fassbegräbnis

Seit jeher beginnt die Bergkirchweih am Donnerstag vor Pfingsten Punkt 17 Uhr mit dem Anstich des ersten Fasses Bier. Der Erlanger Oberbürgermeister, mit Schlegel in der Hand, stößt das Spundloch auf. Ein Schluck Freibier für alle, Applaus und polternde Stimmung – so begrüßt man den „Berch“. Am letzten Montagabend, zwölf Tage später, beerdigt man symbolisch das letzte Fass im Erich-Keller.

Heute: 13 Keller, fünf Brauereien und ein Europa-Riesenrad

Wer heute auf den Burgberg hinaufsteigt, stößt auf 13 Bierkeller, von Kitzmann bis Steinbach, von Tucher bis Mönchshof und Weiherer. Jeder Keller ist eine kleine Welt für sich, mit eigenen Bänken, Biersorten und Liebhabern. Rund 11.000 Sitzplätze erstrecken sich unter Linden, Kastanien und Eichen – damit ist das Kirchweihgelände einer der größten Biergärten Europas. Zwischen den Zapfhähnen hat längst auch der Nervenkitzel Platz gefunden: Fahrgeschäfte wie das „Europa Rad“ drehen ihre Runden und bieten einen atemberaubenden Blick über die Stadt. Ein abgeschlossenes Vergnügen: Hier trifft historische Gemütlichkeit auf moderne Adrenalinfahrt.

Bergferien, „After-Berg“ und eine Million Gäste

Lange gewährte die Universität Erlangen während der Kirchweih eine Woche Bergferien – ein offener Brief an betrunkene Studenten, hieß es hinter vorgehaltener Hand. Seit 1999 ist davon nur noch der freie Dienstag in der Pfingstwoche übrig, wenn Lehrstühle und viele Geschäfte ab Mittag schließen. Vom Biersegen angefeuert, strömen Besucher bis 23 Uhr auf den Berg; danach zieht es die Durstigen in die Stadt. Die „After-Berg“-Szene beginnt, wenn Kneipen und Clubs bis spät in die Nacht locken. Zwölf Tage „Berch“ – das bedeutet rund eine Million Menschen, die kommen, feiern und gehen, ehe der Burgberg wieder zur Ruhe kommt.

Die Bergkirchweih als fünfte Jahreszeit

Kaum eine andere Stadt Bayerns erlebt ihren Volksfesthöhepunkt so traditionsreich wie Erlangen. Für Einheimische ist die Kirchweih längst die „fünfte Jahreszeit“: Mehr als zehnmal so viele Besucher wie Einwohner zählt das Fest während seiner zwölf Tage. Von den kühlen Felsenkellern bis zum modernen Riesenrad, von historischen Bräuchen bis zur pulsierenden After-Party – die Bergkirchweih lebt von diesem Wechselspiel von Althergebrachtem und zeitgenössischem Vergnügen. Und obwohl sie seit 267 Jahren besteht, scheint sie nicht aus der Puste zu kommen: Hinter jedem Zapfhahn, in jedem Gewölbe, in jeder Schlange vor den Fahrgeschäften summt das Leben weiter – als würde 1755 erst gestern sein.

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