Fressen oder sich paaren? Da beides für Tier und Mensch mehr oder weniger überlebenswichtig ist, kann die Wahl zuweilen schwerfallen. Die Antwort zeigt, dass beides durchaus zusammenhängt: Mäßig hungrige Mäuse entscheiden sich im Zweifelsfall für die Paarung, während für sehr hungrige Mäuse das Futter verlockender ist. Reguliert wird das Hungergefühl, und damit die Entscheidung, durch ein spezielles Hormon. Forschende vom Max-Planck-Institut für Stoffwechselforschung haben nun gezeigt, dass Mäuse die Interaktion mit Mitgliedern des anderen Geschlechts dem Essen und Trinken vorziehen, wenn ihre Gehirne mit Leptin, einem appetithemmenden Hormon, stimuliert werden.
Gehirn muss berechnen, welches Verhalten sich am meisten lohnt
„Wir können immer nur einem Verhalten nachgehen, also muss unser Gehirn irgendwie berechnen, welches Verhalten sich am meisten lohnt oder was wir am dringendsten brauchen“, sagt Tatiana Korotkova, Neurowissenschaftlerin am Max-Planck-Institut für Stoffwechselforschung.
Um die Hierarchie angeborener Verhaltensweisen wie Essen, Trinken, Geselligkeit und Paarung zu klären, beobachtete und stimulierte Korotkovas Team die Neuronen der Maus im lateralen Hypothalamus, einem der wichtigsten „Fütterungszentren“ des Gehirns. Sie konzentrierten sich auf Neuronen, die Rezeptoren für Leptin und Neuronen, die Neurotensin produzieren. Leptin und Neurotensin sind Hormone, die mit Hunger und Durst in Verbindung stehen. Zu ihrer Überraschung stellte das Team fest, dass diese Neuronen auch an der Steuerung des Sozialverhaltens beteiligt sind und den Mäusen helfen, ihre Ernährungs- und Sozialbedürfnisse auszugleichen.
Hypothalamus steuert auch das soziale Verhalten
„Wir waren erstaunt, dass der laterale Hypothalamus Fressen und Trinken mit sozialem Verhalten verbindet“, sagt Anne Petzold. „Die Aktivierung von Leptinrezeptor-Neuronen führt dazu, dass Mäuse trotz akuten Hungers oder Durstes soziale Interaktionen bevorzugen. Das ist biologisch sinnvoll, denn Paarungspartner hat man nicht ständig um sich herum, also muss man manchmal Hunger oder Durst ignorieren, um sich paaren zu können.“
Die Forschenden benutzten winzige Mikroskope, um die Aktivität einzelner Nervenzellen im Gehirn zu beobachten, während die Mäuse ein Gehege mit Futter, Wasser und anderen Mäuse erkundeten. „Es war ein großer Vorteil, dass wir die Aktivität der Neuronen bei einem sich frei verhaltenden Tier aufzeichnen konnten“, sagt Korotkova. „Wir konnten wirklich sehen, wie sich die neuronale Aktivität während bestimmter Verhaltensweisen verändert, und wir konnten die Aktivität einzelner Zellen mit hoher zeitlicher Präzision verfolgen und verändern.“
Um zu sehen, wie sich die Prioritäten der Mäuse je nach ihrem Hungerlevel änderten, verglich das Team das Verhalten von Mäusen, die unbegrenzten Zugang zu Nahrung hatten, mit „akut hungrigen“ Mäusen (deren Nahrung über Nacht eingeschränkt worden war) und „chronisch hungrigen“ Mäusen (deren Nahrung fünf Tage lang eingeschränkt worden war). Dieser „chronische Hunger“ kann auch in der freien Natur auftreten, wo nicht ständig Nahrung zur Verfügung steht.
Es zeigte sich, dass die Leptinrezeptor-Neuronen gehemmt wurden, wenn die Mäuse fraßen, und aktiviert wurden, wenn sie mit Mäusen des anderen Geschlechts – potenziellen Partnern – interagierten, nicht aber, wenn sie mit Mäusen des gleichen Geschlechts interagierten.
Leptin macht mäßig hungrige Mäuse gesellig
Als Nächstes setzten die Forschenden Licht und chemische Signale ein, um die Neuronen selektiv zu stimulieren, und beobachteten, ob und wie diese Aktivierung das Verhalten der Mäuse veränderte. Die Leptinstimulation hatte nur geringe Auswirkungen auf das Verhalten der satten Mäuse, die im Allgemeinen mehr an sozialen Kontakten als an Essen interessiert waren. Als die Forschenden jedoch die Leptinrezeptor-Neuronen der akut hungrigen Mäuse aktivierten, änderten sich ihre Prioritäten: Sie näherten sich dem Futter langsamer, aßen weniger und verbrachten mehr Zeit mit sozialen Kontakten zu potenziellen Partnern und Partnerinnen. Allerdings konnte die Leptinstimulation den stärkeren Hunger von Mäusen mit chronischer Nahrungsbeschränkung nicht aufheben: ihr Appetit blieb erhalten und ihre Prioritäten änderten sich auch nicht durch die Leptinaktivierung.
„Wir haben also ein System, das nur mäßigen Hunger, aber keinen stärkeren Hunger regulieren kann“, sagt Korotkova. „Dieser Kreislauf könnte dazu beitragen, warum Diäten oft nicht funktionieren: Es ist kein Problem, die Nahrungsaufnahme für kurze Zeit zu reduzieren, aber es funktioniert schwieriger, wenn man es länger versucht.“ Im Gegensatz dazu beobachteten die Forscher bei der Aktivierung von Neurotensin-Neuronen ein verstärktes Trinkverhalten auf Kosten von sozialen Kontakten.
Eine Nervenzelle koordiniert verschiedene Verhaltensweisen
„Normalerweise denken wir, dass Neuronen eine bestimmte Funktion haben, aber wir fanden heraus, dass eine Zelle tatsächlich mehrere verschiedene Reize kodieren kann“, sagt Korotkova. Das sei biologisch sinnvoll, denn Verhaltensweisen müssen koordiniert werden und es ist viel effizienter, Verhaltensweisen mit ein und derselben Zelle zu koordinieren, als wenn viele verschiedene Zelltypen irgendwie miteinander kommunizieren.“ Sie resümiert: „Als Nächstes möchten wir verstehen, wie sich die Aktivität dieser Zellen während des Fortschreitens von Fettleibigkeit oder der Entwicklung von Essstörungen verändert.“