Die Grünen wollen ins Kanzleramt, das wurde beim Digitalparteitag deutlicher denn je. Zwar stand die Kanzlerkandidaten-Frage bei den dreitägigen Online-Beratungen nicht auf der Tagesordnung. Doch mit inhaltlichen Weichenstellungen untermauert die Partei ihren Machtanspruch. Die Grünen öffnen sich breiteren Wählerschichten, bei strittigen Themen gelingen ihnen Kompromisse. „Erstmals kämpft eine dritte Partei ernsthaft um die Führung dieses Landes“, proklamiert ein selbstbewusster Parteichef Robert Habeck.
Beim Kernthema Klimaschutz gelingt der Parteiführung ein schwieriger Spagat. Nach Gesprächen mit Umweltaktivisten verkündet Parteichefin Annalena Baerbock, dass sich die Partei klarer als zuvor geplant zu einer strengen Begrenzung der Erderwärmung bekennt. Es sei notwendig, „auf den 1,5-Grad-Pfad zu kommen“, lautet der Kompromiss. Im ursprünglichen Entwurf für das Grundsatzprogramm war lediglich auf das Pariser Klimaabkommen verwiesen worden, demzufolge die Erderhitzung auf deutlich unter zwei Grad und „möglichst auf 1,5 Grad“ begrenzt werden soll.
Mit dem ausgehandelten Kompromiss könnte es der Parteiführung gelingen, eine offene Flanke zu schließen. Denn radikalere Klimaaktivisten werfen den Grünen seit längerem vor, sich nicht klar genug zum 1,5-Grad-Ziel zu bekennen. Auch beim anderen Streitthema Gentechnik gelingt beim Parteitag ein Kompromiss. Ihr Einsatz in der Landwirtschaft wird kritisch gesehen, Forschung dazu aber nicht mehr abgelehnt.
Bei der Kontroverse um Volksentscheide auf Bundesebene greift Habeck selbst in die Debatte ein, um zu verhindern, dass die Forderung nach deren Einführung ins Grundsatzprogramm aufgenommen wird. Auch hier setzt sich die Linie des Bundesvorstandes durch, wenn auch nur denkbar knapp.
Mit den Beschlüssen zur Erderwärmung und Gentechnik gelingt es der Parteiführung zwar, den radikaleren Umweltflügel einzubinden, der mit dem Kurs der Mitte hadert, den Baerbock und Habeck seit längerem fahren. Doch ob den beiden der dauerhafte Schulterschluss mit den jungen Umweltaktivisten gelingt, wird sich noch zeigen.
Denn etwa in Baden-Württemberg gibt es bereits eine eigene Klimaliste, die den Grünen bei der Landtagswahl in ihrem Stammland 2021 wichtige Prozentpunkte kosten könnte. Und in Hessen, wo mit dem Segen der schwarz-grünen Landesregierung Bäume des Dannenröder Forstes für die Autobahn 49 gerodet werden sollen, sitzen die Umweltaktivisten den Grünen ebenfalls im Nacken.
So stehen der Partei weitere Konflikte ins Haus – zumal die Grünen-Spitze auf dem Online-Parteitag keinen Zweifel daran aufkommen lässt, dass sie noch mehr Wähler aus bürgerlichen Schichten gewinnen will. Die Grünen seien eine Partei, die „für die ganze Gesellschaft arbeitet“, schreibt Habeck der Basis ins Stammbuch. „Raus aus den abgekapselten Gruppen, rein in eine gemeinsam geteilte Wirklichkeit“, formuliert Habeck den Abschied vom Nischen-Dasein der Öko-Partei.
Selbst Fraktionschef Anton Hofreiter, der als Parteilinker wie kaum ein anderer den traditionellen Umwelt-Flügel der Grünen repräsentiert, nimmt auf dem Online-Parteitag breite Wählerschichten in den Blick: Die Partei wolle ihre Ziele „nicht mit der Brechstange oder Rechthaberei“ verfolgen, sondern „mit einer Politik für das Ganze“.
Insgesamt zufrieden zeigte sich die Parteispitze mit dem Ablauf des ersten digitalen Bundesparteitags: Aus der Sendezentrale im Berliner Tempodrom schickten die Vorstandsmitglieder ihre Redebeiträge ins Netz, das Parteitagspräsidium führte Regie. Die Delegierten meldeten sich per eingespieltem Video oder Live-Schaltung zu Wort und stimmten digital ab.
Habeck wertete die digitale Premiere als großen Erfolg. Er räumte aber auch ein, dass ihm manches fehle, etwa Applaus und Emotionen – oder auch mal „Widerstand aus der Halle zu bekommen“. Das könnte sich im Wahljahr ändern, schließlich will die Partei dann wieder Präsenz-Parteitage veranstalten.