Im Auftrag des Erzbistums Köln hat der Strafrechtler Björn Gercke ein mehr als 800 Seiten langes Gutachten zur Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs im größten deutschen Erzbistum erarbeitet. Die umfangreiche Untersuchung beleuchtet allerdings nur aktenkundige Fälle. Ein Überblick über die Aussagekraft und die Grenzen des Gutachtens:
WAS WURDE GEPRÜFT – UND WAS NICHT?
Die juristischen Gutachter haben überprüft, ob es im Umgang mit Missbrauchsfällen im Erzbistum von 1975 bis 2018 Fehler gab und wer dafür verantwortlich war. Ob sich die Vorfälle tatsächlich so zutrugen, wie aus den Akten hervorgeht, wurde hingegen nicht überprüft. Auch eine Bewertung der Fälle wurde nicht vorgenommen. Es handle sich um eine rein juristische Untersuchung und nicht um strafrechtliche Ermittlungen, betonten die Gutachter.
AUF WELCHER DATENGRUNDLAGE BASIERT DIE UNTERSUCHUNG?
Das Gutachten basiert auf zahlreichen schriftlichen Unterlagen sowie Befragungen. Unter anderem werteten die Juristen Personalakten, Sitzungsunterlagen, Protokolle, Gutachten, Gedächtnisprotokolle und handschriftliche Notizen aus. Auch Unterlagen aus dem Geheimarchiv und der Seelsorge wurden dem Papier zugrunde gelegt. Zusätzlich wurden alle zehn noch lebenden ehemaligen Verantwortungsträger befragt, bei denen mögliche Pflichtverletzungen im Raum standen.
WIESO WURDEN KEINE BETROFFENEN BEFRAGT?
Für die Untersuchung befragten die Juristen weder Betroffene noch Beschuldigte. Die Begründung dafür ist dieselbe: Da viele Zeitzeugen bereits starben, hätte die Befragung einzelner das Gutachten empirisch verfälscht. Rein juristisch sei die Befragung von Betroffenen außerdem nicht erforderlich gewesen, erklärten die Gutachter.
WAS HAT ES MIT DEN GENANNTEN PFLICHTVERLETZUNGEN AUF SICH?
Um mögliches Fehlverhalten der Verantwortlichen zu bewerten, legten die Gutachter fünf sogenannte Pflichtenkreise fest. Diese beinhalten über die Jahre variierende Pflichten, denen die Geistlichen nachkommen mussten. Dazu zählen beispielsweise die Aufklärungspflicht zur Erhellung von Verdachtsfällen oder die Anzeigepflicht, die eine Meldung von Missbrauchsfällen nach Rom oder gegenüber der Staatsanwaltschaft umfasst.
WELCHE SCHWIERIGKEITEN ERGABEN SICH FÜR DIE GUTACHTER?
Im Rahmen der Befragung erfuhren die Gutachter, dass im untersuchten Zeitraum mindestens zweimal Akten im Erzbistum vernichtet wurden. Zudem stellten die Juristen „erhebliche Mängel“ im Hinblick auf die Organisation der Aktenbestände sowie die Aktenführung fest: Wegen fehlenden Seitenzahlen sei manchmal etwa nicht nachzuvollziehen, ob Aktenbestandteile fehlen oder nachträglich hinzugefügt wurden. Zum Teil seien Notizen in unleserlicher Handschrift angefertigt worden.
WORIN LIEGT DER UNTERSCHIED ZUM UNVERÖFFENTLICHTEN MÜNCHNER GUTACHTEN?
Die Kölner Juristen bekamen Wort für Wort denselben Auftrag wie die Münchner Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl, um eine „transparente Vergleichbarkeit“ zu schaffen. Das Münchner Gutachten beschäftige sich allerdings nur mit einzelnen Missbrauchsfällen und umfasste lediglich 350 Seiten. Das im März 2020 fertiggestellte Gutachten wurde bis heute nicht veröffentlicht. Woelki warf der Kanzlei methodische Mängel vor.