Saskia Esken im Interview: „Wer sich selbst zu ernst nimmt, hat keinen Spaß am Leben“

Saskia Esken - Bild: Monika Baumann
Saskia Esken - Bild: Monika Baumann

Frau Esken, seit Ende 2019 sind Sie Bundesvorsitzende der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Was bedeuten Demokratie und demokratische Werte für Sie ganz persönlich?

Ich bin in einem sozialdemokratischen Elternhaus groß geworden. Demokratisch organisierte politische Arbeit ist insofern Teil meiner Kindheit gewesen. Meine Eltern waren sowohl in der SPD aktiv, als auch im Kommunalparlament. In meinem Fall war es die „Schülermitverantwortung“ – ebenfalls ein demokratisch organisiertes Beteiligungsformat – die mein Interesse an politischer Betätigung geweckt hat. Insofern ist klar: Freiheitsrechte, aktive Teilhabe sowie kritische Kontrolle sind ebenso Kern unserer Demokratie wie der Parlamentarismus. Seit sechs Jahren bin ich jetzt Bundestagsabgeordnete.

Stichwort Europa: Der EU-Gipfel hat gezeigt, dass nationale Egoismen zunehmend Kompromisse zu Lasten der Rechtsstaatlichkeit erfordern. Wie beurteilen Sie die Ergebnisse? Verliert die EU ihre Werte?

Auf der einen Seite hat der Beschluss des EU-Gipfels durchaus gezeigt, dass die EU in dieser Krise handlungsfähig ist und vor allem solidarisch sein kann. Solidarität ist ohne Zweifel ein wichtiger Wert der EU. Ein Wert, an dem wir es möglicherweise in der Vergangenheit haben mangeln lassen. Vor diesem Hintergrund: Ein historisches Ergebnis!

Auf der anderen Seite gilt: Wer von der Europäischen Union solidarische Hilfe erwartet, muss alle Werte der EU achten – und dazu gehört ganz sicher auch die Rechtsstaatlichkeit.

Die Entscheidung, die Frage der Rechtsstaatlichkeit zu ignorieren und nicht einmal eine klare Erwartungshaltung auszuformulieren, lässt Fragen offen. Mich stimmt aber hoffnungsfroh, dass die Abgeordneten des EU-Parlaments angekündigt haben, diesbezüglich nachschärfen zu wollen, dass die Werte in den unterschiedlichen Institutionen der Europäischen Union getragen und durchgesetzt werden.

Wahlen sind das Fundament unserer Demokratie und die wichtigste Form demokratischer Kontrolle. Sie haben sich erst kürzlich dafür ausgesprochen, das Wahlalter auf 16 Jahre zu senken. Warum?

Ich bin der Überzeugung, dass sich junge Menschen heute früher denn je politisch interessieren und engagieren. Wenn sich Jugendliche im Unterricht damit beschäftigen, wie Demokratie funktioniert, wie die politischen Ebenen und die Parlamente arbeiten, dann ist es ebenso an der Zeit, ihnen das Wahlrecht an die Hand zu geben. Lassen wir hingegen drei oder vier Jahre bis zum ersten Wahlgang verstreichen, ist die Nähe zum Thema vielleicht schon wieder verloren – das finde ich sehr schade. Ich bin der festen Überzeugung, dass 16-Jährige durchaus beurteilen können, was sie tun, wenn sie jemandem ihre Stimme geben.

Schauen wir nach Amerika: Die Proteste infolge des Todes von George Floyd zeigen die soziale Ungleichheit und gesellschaftliche Spaltung in den USA. Beunruhigt Sie der Blick über den Atlantik?

Ja, das sind beunruhigende Entwicklungen. Sowohl die soziale und gesellschaftliche Spaltung als auch die politischen Entwicklungen in den USA – der „Wiege der Freiheit“ – machen mich sehr unruhig. Auch die Sprachlosigkeit zwischen den Küsten auf der einen und den sogenannten „Flyover States“ auf der anderen Seite muss uns zu denken geben. Wir haben oft mit Staunen über den großen Teich geblickt und oft genug zu Recht befürchtet: Das sind Entwicklungen, die uns noch bevorstehen. Dennoch muss klar sein: Auch wenn wir den US-amerikanischen Präsidenten und seine Politik sehr kritisch beobachten, so bleiben die Amerikaner stets unsere Freunde.

Wichtig ist, dass es der Politik hier wie dort gelingt, die Ungleichheit der Einkommen, der Vermögen und der Chancen zu überwinden und für umfassende soziale Sicherheit zu sorgen. Nur dann werden sich die Menschen auf den gesellschaftlichen Wandel einlassen ohne befürchten zu müssen, zukünftig nicht mehr „Teil des Ganzen“ sein zu können. Darüber hinaus muss es uns es gelingen, die argumentativen Gräben zu verlassen und mehr gegenseitigen Respekt für die Vielfalt der Lebensentwürfe aufzubringen.

Mehrfach sind in der jüngeren Vergangenheit Polizistinnen und Polizisten durch rechtsextreme Haltungen aufgefallen. Was bedeutet es für die Demokratie, wenn das Vertrauen in die Sicherheitsbehörden schwindet?

Demokratie ist kein Zustand, sondern eine Daueraufgabe. Wir müssen wachsam sein und bleiben, wenn extremistische Haltungen und Taten sie bedrohen. Wir haben in Deutschland etwas geschaffen, was es so nur in wenigen Ländern dieser Erde gibt: Eine Polizei, die von ihrer Ausbildung und ihrem Selbstverständnis her eine Bürgerpolizei ist. Natürlich hat sie das Gewaltmonopol. Aber sie agiert eben auf Augenhöhe mit den Bürgerinnen und Bürgern. Der Leitsatz „Die Polizei, dein Freund und Helfer“ bringt es auf den Punkt. Urheber ist ein sozialdemokratischer Innenminister, der später von den Nazis verfolgt und vertrieben wurde.

Wenn es in den Reihen der Polizei rechtsextreme Haltungen und Handlungen gibt, dann muss es das Selbstverständnis sein, konsequent und unverzüglich dagegen anzukämpfen. Ich weiß, dass die überwiegende Mehrheit der Polizistinnen und Polizisten die Werte und Ideale der Demokratie lebt und dass sie ebenso besorgt sind. Gegen Rechtsextremismus bei der Polizei hilft nur die Debatte und der Aufbau einer Inneren Führung. Die Erfolge einer guten, selbst reflektierenden Ausbildung dürfen nicht im Berufsleben verloren gehen. Ich bin froh, dass sich die SPD-Innenminister dieser Debatte stellen und sich für die Polizei, ihren guten Ruf sowie das berechtigte Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Arbeit der Sicherheitsbehörden einsetzen. Dagegen erweisen andere durch die pure Abwehr dieser Debatte der Polizei einen Bärendienst.

Ihr neues Twitter-Profilbild – ein Simpsons-Charakter – hat eine Vielzahl unterschiedlicher Reaktionen im Netz ausgelöst. Warum die Simpsons und inwieweit beeinflussen soziale Medien unsere Demokratie?

Mich hat ein junger Künstler als Simpsons-Figur karikiert. Da ich die Zeichnung sehr gelungen fand, habe ich sie ihm abgekauft. Seitdem ziert sie mein Twitter-Profil – so kam es dazu. Ich finde, die Simpsons erlauben uns einen erfrischend kritischen – geradezu subversiven – Blick auf uns selbst und auf die Politik. Und dieser Blick tut gut. Ich bin mir sicher: Wer sich selbst zu ernst nimmt, hat keinen Spaß am Leben!

In den sozialen Medien ist die Debatte zwischen Politik und Bevölkerung stark von wechselseitigem Austausch geprägt. Dieser Aspekt unterscheidet Facebook, Twitter und Co. von den „klassischen Medien“, in denen Politikerinnen und Politiker gewöhnlich ihre Informationen ohne direkte Rückkopplung nach draußen tragen. Von daher haben soziale Medien sicherlich einen besonderen Einfluss auf Politik und Gesellschaft – auch im Hinblick auf eine verstärkte demokratische Kontrolle.

Leider müssen wir jedoch auch eine zunehmende Meinungsmanipulation und Einflussnahme von außerhalb feststellen. Nicht immer ist ersichtlich, wer hinter welchem Account steckt. Wir sehen Kampagnen, welche auf die Präsidentschaftswahl in den Vereinigten Staaten Einfluss genommen haben oder auf die Brexit-Abstimmung. Auch der Zulauf bei den Rechtsextremen, den Nationalisten überall in Europa, ist besorgniserregend – nicht selten sehen wir dahinter kriminelle Machenschaften, die sich der sozialen Medien bedienen. Da müssen wir einen Riegel vorschieben.

Frau Esken, in unserer letzten Frage möchten wir gerne etwas Persönliches über Sie erfahren: Was machen Sie, wenn Sie sich nicht gerade mit sozialdemokratischen Themen beschäftigen?

Als Bundestagsabgeordnete – und erst recht als Parteivorsitzende – sind die Grenzen zwischen beruflichem Leben und Freizeit fließend. In einer solchen Position ist es wichtig, sich jeden Tag kleine Nischen zu suchen. Das tue ich auch. Ich gehe gerne spazieren oder werfe einen Blick in das berühmte „gute Buch“. Außerdem spiele ich sehr gerne Gitarre – dann reichen mir auch kleine Nischen von einer halben Stunde, um den Kopf wieder frei zu bekommen.

Quelle: Initiative Gesichter der Demokratie

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