Eine Rückkehr zur Normalität sollte es sein, doch daraus wird vorerst nichts: Die Plenarsitzung des EU-Parlaments nächste Woche wird doch nicht in Straßburg abgehalten. Parlamentspräsident David Sassoli entschied sich am Dienstag wegen der steigenden Corona-Fälle im Elsass erneut für eine Tagung in Brüssel. Zahlreiche Abgeordnete verschiedener Fraktionen hatten sich zuvor dagegen ausgesprochen, ins 500 Kilometer entfernte Straßburg zu reisen. Von französischer Seite kam scharfe Kritik.
„Wir haben alles getan, um den normalen Ablauf unserer Plenartagungen in Straßburg wieder aufzunehmen“, erklärte Sassoli. Aber das Aufflammen der Corona-Pandemie in mehreren EU-Mitgliedstaaten und die Einstufung der Region um Straßburg als rote Zone durch die französischen Behörden hätten ihm keine Wahl gelassen: „Die Plenarsitzung des Europäischen Parlaments findet vom 14. bis 17. September in Brüssel statt.“
Die meisten Tagungen der Volksvertretung werden im Normalfall ohnehin in Brüssel abgehalten. Nur für die Plenarsitzungen reisen die Abgeordneten zwölf Mal im Jahr ins elsässische Straßburg – so schreiben es die EU-Verträge vor. Wegen der Corona-Pandemie hatte das Parlament das Pendeln ausgesetzt, wollte nach der Sommerpause aber wieder zum Normalbetrieb übergehen.
Insbesondere wegen der ernsten Lage in Brüssel hielten dies viele Abgeordnete zuletzt für verfrüht. Die belgische Hauptstadt gilt wegen zahlreicher Corona-Fälle als Risikozone, Deutschland hatte bereits Mitte August eine Reisewarung ausgesprochen. Da sei es unverantwortlich, mit dem gesamten Parlament nach Straßburg umzuziehen, sagte etwa der CDU-Abgeordnete Peter Liese.
Die Entscheidung oblag formell Parlamentspräsident Sassoli. Doch wenn Frankreich glaubwürdig darlege, dass die Sicherheit in Straßburg gegeben sei, habe Sassoli kaum Spielraum, hieß es bis zuletzt aus Parlamentskreisen. Im Elsass war die epidemiologische Lage vergangene Woche noch deutlich besser als in Brüssel. Am Sonntag überschritt die Großraumregion der elsässischen Hauptstadt aber die Schwelle von täglich 50 Neuinfizierten pro 100.000 Einwohner.
Die Sozialdemokraten im Parlament hatten sich im Voraus bereits geschlossen gegen eine Plenarsitzung in Straßburg ausgesprochen. „Auch Europapolitikerinnen und Europapolitiker sollten Reisen vermeiden, die nicht unbedingt nötig sind“, erklärte der SPD-Abgeordnete Jens Geier. Französische Sozialisten stimmten dem zu.
Aus anderen französischen Lagern kam nun jedoch scharfe Kritik. Der Liberale Christophe Grudler warf dem Sozialisten Sassoli vor, eine politische Entscheidung im Sinne seiner Fraktion getroffen zu haben. Auch die Konservative Anne Sander beklagte, dass Brüssel den Zuschlag vor Straßburg erhalte, obwohl beide Städte in einer rote Zone lägen.
Auf französischer Seite herrscht seit Anfang der Pandemie die Sorge, dass durch die Aussetzung der Straßburg-Sitzungen die Debatte um den Nutzen des doppelten Parlamentssitzes wieder Fahrt aufnehmen könnte. Der Fraktionschef der Linken, Martin Schirdewan, rief dann auch dazu auf, die „Wanderzirkus“ auch in normalen Zeiten zu beenden. „Eine riesige Mehrheit im EU-Parlament will sowieso nur einen Sitz“, erklärte auch der niederländische Grüne Bas Eickhout.
In der Vergangenheit hatte Paris nicht gezögert, die EU-vertraglich verankerten zwölf Sitzungen in Straßburg beim Europäischen Gerichtshof einzuklagen. „Ich glaube aber nicht, dass sich Frankreich trauen wird, jetzt dagegen zu klagen“, sagte ein konservativer EU-Abgeordneter eines anderen Landes.