Die einseitige Verlängerung von Brexit-Übergangsregelungen für Nordirland durch London verschärft die Spannungen mit der EU. Vertreter des Europaparlaments drohten am Donnerstag damit, das Handelsabkommen mit Großbritannien nicht zu ratifizieren. Die britische Regierung verteidigte den Schritt dagegen als „vernünftig und praktikabel“. Eine pro-britische Unionisten-Gruppierung setzte derweil ihre Unterstützung für das Friedensabkommen von 1998 aus.
Der Vorsitzende des Handelsausschusses im EU-Parlament, Bernd Lange (SPD), verwies auf eine Erklärung vom September, nach der das Parlament bei einem Bruch des Brexit-Vertrages das Handelsabkommen mit Großbritannien nicht ratifizieren werde. Großbritannien hatte zum 1. Januar auch den EU-Binnenmarkt und die Zollunion verlassen. Für ihre weiteren Beziehungen vereinbarten beide Seiten an Weihnachten ein Abkommen, das insbesondere einen zollfreien Handel vorsieht. Das Europaparlament soll die Vereinbarung nun bis Ende April ratifizieren. Bisher ist sie nur vorläufig in Kraft.
Die britische Regierung hatte am Mittwoch angekündigt, Übergangsregelungen für die Ausfuhr von Lebensmitteln und Agrarprodukten in die britische Provinz Nordirland einseitig bis Oktober zu verlängern. Es handele sich um eine „vorübergehende“ Maßnahme, um größere Störungen im Warenfluss zu vermeiden, erklärte der für Nordirland zuständige Staatssekretär Brandon Lewis. Die EU-Kommission warf London umgehend einen Verstoß gegen das zum Brexit-Vertrag gehörende Nordirland-Protokoll vor.
Möglich in dem Fall ist eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof oder die Anrufung des Streitschlichtungsgremiums des Austrittsvertrages. Bekommt die EU dort Recht, könnten Strafgelder gegen Großbritannien verhängt werden. Solche Verfahren wären aber langwierig, weshalb die Drohung des Parlaments mit der Verweigerung der Ratifizierung des Handelsabkommens mehr Druck aufbauen könnte.
Im September hatte die Koordinierungsgruppe des Parlaments zu Großbritannien London gewarnt, bei Verstößen gegen den Brexit-Vertrag werde das Parlament „unter keinen Umständen“ das Abkommen zu den künftigen Beziehungen ratifizieren.
Diese Erklärung sei „weiter gültig“, schrieb der SPD-Politiker Lange auf Twitter. Auch sein konservativer Kollege Christophe Hansen warnte, die britische Regierung müsse sich bewusst sein, dass das Parlament das Handelsabkommen noch nicht ratifiziert habe. Es bleibe „rote Linie“ der Abgeordneten, dass der Brexit-Vertrag und das dazugehörige Nordirland-Protokoll vollständig umgesetzt werden müssten.
Die britische Regierung wies am Donnerstag Vorwürfe erneut zurück, sie breche mit ihrem Schritt den Brexit-Vertrag. Vielmehr sei die einseitige Verlängerung der Übergangsregelungen „vollständig vereinbar“ mit der Absicht der britischen Regierung, ihre Verpflichtungen aus dem Zusatzprotokoll zu erfüllen, erklärte ein Sprecher Johnsons.
Scharfe Worte kamen dagegen aus Irland. Der irische Außenminister Simon Coveney sagte dem Radiosender RTE, der britische Schritt sei „wenig hilfreich“. „Wenn man Großbritannien einfach nicht trauen kann, weil es auf unerwartete Weise einseitige Maßnahmen ohne Verhandlungen ergreift, dann lässt die britische Regierung der EU keine andere Wahl“, sagte Coveney und verwies auf einen Bericht, wonach Brüssel rechtlich gegen London vorgehen will.
Wegen des Streits um die Brexit-Regeln setzte am Donnerstag eine pro-britische Unionisten-Gruppierung ihre Unterstützung für das Friedensabkommen von 1998 aus. In einem Brief an Johnson erklärte der Loyalist Communities Council (LCC), dass er seine Unterstützung für das Karfreitagsabkommen zurückziehe, „bis unsere Rechte unter dem Abkommen wiederhergestellt sind“. Der Rat betonte, dass der Widerstand „friedlich und demokratisch“ bleiben solle.
Zudem leitete die Polizei Ermittlungen wegen Drohungen gegen den Staatssekretär für Kabinettsangelegenheiten, Michael Gove, ein. In der nordirischen Hauptstadt Belfast waren zuvor der Name und die Privatadresse Goves an Wände gesprüht worden, wie örtliche Medien berichteten. Darunter stand demnach der Schriftzug: „Wir vergessen nicht. Wir vergeben nicht.“
Großbritannien war nach dem Brexit zum Jahreswechsel auch aus dem EU-Binnenmarkt und der europäischen Zollunion ausgetreten. Für Nordirland wurde dazu im Brexit-Vertrag ein gesondertes Protokoll vereinbart, das Grenzkontrollen zwischen Irland und Nordirland und damit ein Wiedertaufflammen des blutigen Konflikts um das britische Gebiet verhindern soll. Nordirland verließ damit zwar die EU-Zollunion, wendet aber weiter die Regeln des europäischen Binnenmarktes an.