Der Austritt der Türkei aus dem internationalen Abkommen gegen Gewalt an Frauen hat heftige Kritik im In- und Ausland hervorgerufen. Der Europarat sprach am Samstag von einer „verheerenden Nachricht“ aus Ankara. Der Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu sagte, jeden Tag gebe es in der Türkei Nachrichten von „neuen Gewalttaten gegen Frauen“. Deshalb könne das Austritts-Dekret von Präsident Recep Tayyip Erdogan nur „Bitterkeit“ auslösen.
In den Reaktionen wurde auch darauf hingewiesen, dass das Abkommen gegen Gewalt an Frauen auch als Istanbul-Konvention bekannt ist – also in der Türkei selbst abgeschlossen wurde. Im vergangenen Jahr wurden nach Erhebungen der Organisation „Wir werden Frauenmorde stoppen“ 300 Frauen in der Türkei von ihren Ehemännern oder Ex-Partnern getötet.
Der Rückzug aus der Konvention wurde durch ein Präsidial-Dekret Erdogans in der Nacht zum Samstag bekanntgegeben; Frauenrechtsgruppen riefen umgehend zu Demonstrationen auf. Erdogan kam mit seiner Entscheidung konservativen und islamistischen Kreisen entgegen. Diese hatten den Austritt mit der Begründung gefordert, die Übereinkunft schade der Einheit der Familie und fördere Scheidungen.
Erdogan hatte bereits im vergangenen Jahr angekündigt, dass er möglicherweise den Rückzug aus der Konvention anordnen werde. Daraufhin gab es Proteste in Istanbul und mehreren anderen türkischen Städten. Die Oppositionspartei CHP kritisierte den Schritt der Regierung. Der Rückzug aus dem Abkommen bedeute, dass „Frauen weiterhin Bürger zweiter Klasse bleiben und zugelassen wird, dass sie getötet werden“, erklärte die stellvertretende CHP-Chefin Gökce Gökcen.
Die Regierung versicherte dagegen, der Kampf gegen die an Frauen verübte Gewalt werde fortgesetzt. In dieser Sache werde an dem Prinzip der „Null-Toleranz“ festgehalten, sagte Familienministerin Zehra Zumrut Selcuk der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu.
Der Rückzug der Türkei aus der Istanbul-Konvention zeige, „wie sehr Erdogan Frauenrechte missachtet“, erklärten in Berlin die frauenpolitische Sprecherin der Linken-Fraktion, Cornelia Möhring, und der europapolitische Sprecher Andrej Hunko. Die Konvention sei ein „Manifest, das die Vision einer Gesellschaft vertritt, in der Frauen nicht den Männern untergeordnet sind, sondern in der eine vollständige Gleichstellung der Geschlechter herrscht.“
Die Konvention des Europarats ist das weltweit erste verbindliche Abkommen dieser Art. Sie soll Frauen und Mädchen besser vor Gewalt schützen – sei es zu Hause oder anderswo. Als „Gewalt“ gilt dabei laut Abkommen nicht nur physische Gewalt, sondern auch geschlechtsspezifische Diskriminierung, Einschüchterung oder wirtschaftliche Ausbeutung.
Die Übereinkunft wurde am 11. Mai 2011 in Istanbul zur Unterschrift ausgelegt. Sie wurde inzwischen von 45 Staaten und der Europäischen Union (EU) unterzeichnet; Deutschland gehörte zu den ersten Unterzeichnern.