Der Verfassungsschutz beobachtet nun auch bundesweit Teile der „Querdenken“-Bewegung, die seit einem Jahr gegen die Corona-Maßnahmen mobilisiert. Die Organisatoren nähmen Verbindungen zu sogenannten Reichsbürgern, Selbstverwaltern und Rechtsextremisten in Kauf oder suchten diese, teilte das Bundesinnenministerium am Mittwoch mit. Es werde „das Ignorieren behördlicher Anordnungen propagiert und letztlich das staatliche Gewaltmonopol negiert“. Minister Horst Seehofer (CSU) verwies darauf, „dass Extremisten versuchen, sich dieser Bewegung zu bemächtigen“.
Die Organisatoren der „Querdenken“-Bewegung zeigten zum Teil deutlich, dass es ihnen nicht nur um Proteste gegen staatlichen Corona-Schutzmaßnahmen gehe, so das Bundesinnenministerium. Die Verfassungsschutzbehörden von Bund und Ländern nähmen sehr aufmerksam „Phänomene, Gruppierungen und Einzelpersonen“ in den Blick, die „wesentliche Verfassungsgrundsätze“ in Frage stellten. Bislang wurden Teile der Corona-Protestbewegung nur in Baden-Württemberg, Bayern, Hamburg und Berlin vom Verfassungsschutz beobachtet.
Seehofer betonte, es solle „in keiner Weise angetastet werden“, dass Menschen für ihre Meinung auf die Straße gingen und auch „energisch widersprechen“. Die Meinungsfreiheit solle keineswegs beeinträchtigt werden. Es habe sich aber in der „Querdenken“-Bewegung „teilweise schon etwas verändert, was die Gewaltbereitschaft betrifft“.
Das Bundesamt für Verfassungsschutz richtete den Ministeriumsangaben zufolge einen neuen Phänomenbereich „Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“ ein. Innerhalb dieses Bereichs wurde ein bundesweites Sammelbeobachtungsobjekt mit dem Titel „Demokratiefeindliche und/oder sicherheitsgefährdende Delegitimierung des Staates“ geschaffen. „Das Sammel-Beobachtungsobjekt ermöglicht sowohl eine Bearbeitung als Verdachtsfall als auch als erwiesen extremistische Bestrebung“, hieß es.
Der Zentralrat der Juden nannte die Beobachtung „dringend notwendig“. „Rechtsextremisten nutzen die Proteste gegen die Corona-Auflagen strategisch, um Anhänger zu gewinnen. Sie verbreiten darüber ihr Gedankengut bis tief in die Mitte der Gesellschaft“, erklärte Zentralratspräsident Josef Schuster. „Diese Entwicklung muss unbedingt gestoppt werden.“
Der baden-württembergische Innenminister Thomas Strobl (CDU) erklärte, bei den sogenannten Querdenkern komme „eine hoch toxische Mischung zusammen“. Eine weitere Radikalisierung der Bewegung sei „durchaus vorstellbar“.
Thüringens Innenminister Georg Maier (SPD) nannte die bundesweite Beobachtung „überfällig“. Die ganze Bewegung habe sich zuletzt „noch einmal massiv radikalisiert“, sagte er dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. „Querdenken“ dringe in weitere Schichten der Bevölkerung ein, und die AfD sei stets mit dabei.
Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) begrüßte, dass der Verfassungsschutz „die radikalen Kräfte der Szene beobachtet“. Bei den Demonstrationen würden „Freiheitsrechte von anderen gezielt missbraucht“, sagte GdP-Vize Jörg Radek den Funke-Zeitungen. Medienvertreter würden attackiert, Namen von Polizeikräften und Journalisten vor Ort auf der Demonstrationsbühne genannt.
SPD-Fraktionsvize Katja Mast sagte der Nachrichtenagentur AFP: „Unsere Demokratie ist wehrhaft.“ Teile der Querdenken-Bewegung versuchen gezielt, Vertrauen in die Demokratie und ihre Institutionen zu zersetzen. „Sie verbreiten Falschnachrichten, ziehen unerträgliche NS-Vergleiche und schrecken auch vor Angriffen auf die freie Presse nicht zurück“, so Mast.
Der CSU-Innenpolitiker Volker Ullrich erklärte, es gebe einen Unterschied „zwischen Menschen, die frei ihre Meinung äußern und solchen, die damit in Wahrheit unsere Demokratie angreifen wollen“. Teile der sogenannten Querdenken-Bewegung hätten diese Grenze überschritten und sich radikalisiert.
Der FDP-Innenpolitiker Benjamin Strasser erklärte, mit „Querdenken“ entstehe „ein Extremismus ganz neuer Art“. Von Reichsbürgern, gewalttätigen Rechtsextremisten über antisemitische Verschwörungserzähler bis hin zu Esoterikern sei alles dabei.