Auf Basis von rund 63 Millionen gesetzlich Versicherter hat das Deutsche Diabetes-Zentrum (DDZ) erstmals Trends zur Inzidenz des Typ-2-Diabetes (T2D) über einen Zeitraum von sechs Jahren in Deutschland erhoben. Die Ergebnisse zeigen, dass die Anzahl der Neuerkrankungen in fast allen 401 Kreisen, kreisfreien Städten sowie auf Bundesebene sank. Demgegenüber steht eine steigende Anzahl an Neuerkrankungen in jüngeren Altersgruppen.
Bislang sind Studien, die zeitliche Veränderungen von T2D-Inzidenzen in Deutschland untersuchen, selten: sie können entweder nur auf kürzere Zeiträume zurückblicken, oder den zeitlichen Verlauf ausschließlich in vergleichsweise großen Regionen abbilden. „Daher war uns wichtig, einen möglichst langen Zeitraum zu untersuchen, damit verwertbare Trends entstehen und nicht nur eine Momentaufnahme erfolgt“, sagt Thaddäus Tönnies vom Institut für Biometrie und Epidemiologie am DDZ. Die Wissenschaftler modellierten daher alters- und geschlechtsspezifische sowie regionale Trends der T2D-Inzidenzrate für die Jahre 2014 bis 2019. Dazu stellte das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung anonymisierte Daten aller rund 63 Millionen gesetzlich Versicherten in Deutschland zur Verfügung.
Bundesweit: Neuerkrankte werden weniger, aber immer jünger
Insgesamt wurden jedes Jahr ungefähr 450.000 Neuerkrankungen erfasst. Gleichzeitig stellte die Arbeitsgruppe fest, dass die Inzidenzrate bei Frauen um 2,4 Prozent und bei Männern um 1,7 Prozent jährlich über alle Altersgruppen sank, vor allem in den höheren Altersgruppen. „Erfreulich ist, dass die deutschlandweite Inzidenz offenbar um etwa 2 Prozent pro Jahr sinkt – auch, wenn die Zahl der Neuerkrankungen immer noch immens ist“, sagt auch Tönnies. Was bedenklich stimme sei der Fakt, dass in der Altersgruppe der 20- bis 39-Jährigen die Neuerkrankungen anstiegen: bei Männern um 2,9 Prozent und Frauen um 2,4 Prozent jährlich. „Typ-2-Diabetes ist definitiv keine Krankheit des Alters mehr“, erklärt der Experte. „Es erhalten immer häufiger junge Menschen die Diagnose Typ-2-Diabetes.“
Deswegen erstaunt es auch nicht, dass der Anteil der Betroffenen insgesamt weiter steigt. „Dass die Prävalenz im gleichen Zeitraum steigt ist nur ein scheinbarer Widerspruch“, erklärt Oliver Kuß, Leiter des Instituts für Biometrie und Epidemiologie am DDZ. „Denn die immer besser werdende medizinische Versorgung von Menschen mit Typ-2-Diabetes führt zu einer höheren Lebenserwartung und damit auch zu einem größeren Anteil erkrankter Personen an der Gesamtbevölkerung.“
Abgeschlagen auf Kreisebene: Neue Bundesländer und Saarland
Wie die bundesweite Inzidenzrate sinkt auch der SIR auf Kreisebene über den Beobachtungszeitraum. Dabei ist der SIR der Faktor, um den sich die Inzidenzrate eines Kreises von der bundesweiten Inzidenzrate im Jahr 2014 unterscheidet. Weisen Kreise einen SIR < 1, SIR = 1 und SIR > 1 auf, bedeutet dies folglich eine niedrigere, gleiche oder höhere Inzidenzrate im Vergleich zur bundesweiten Inzidenzrate im Jahr 2014.
2019 lagen deutlich mehr Kreise unter der bundesweiten Inzidenzrate des Jahres 2014 als im Jahr 2014. Entsprechend weisen fast alle Kreise einen sinkenden SIR auf, wobei die mittlere Verringerung bei -2,2 Prozent jährlich liegt. Es ist aber auch zu erkennen, dass die Inzidenzrate in den neuen Bundesländern und im Saarland tendenziell über dem Bundesdurchschnitt liegt, im Nordwesten und Süden Deutschlands hingegen unter dem von 2014. In 14 Kreisen ist sogar eine steigende Tendenz zu erkennen: In den Kreisen Main-Kinzig-Kreis, Dessau-Roßlau und Gotha stieg der Faktor um mehr als 1 Prozent pro Jahr.
Daher können die Forscher auch noch keine Entwarnung geben. „Auch, wenn die vorliegende Arbeit erstmals auf leicht sinkende Neuerkrankungsraten hinweist, muss weiterhin intensiv beobachtet werden, ob sich dieser Trend auch fortsetzt“, fordert Michael Roden, Direktor der Klinik für Endokrinologie und Diabetologie am Universitätsklinikum Düsseldorf. Die Dynamik könne sich rasch wieder umkehren, wie Daten aus Dänemark zeigten. Auch eine gewisse Dunkelziffer Nicht-Diagnostizierter dürfe man nicht unberücksichtigt lassen. Präventive Maßnahmen, gezielte Bewegungsangebote, gesunde Ernährungsgewohnheiten und die gesundheitliche Aufklärung der Bevölkerung müssen verstärkt gefördert werden, um aus einem ersten Trend eine langfristige Kehrtwende für Deutschland einzuleiten.