Bedford-Strohm: „Antisemitismus wird traditionell von Rechtsradikalen geprägt“

Heinrich Bedford-Strohm - Bild: Michael McKee
Heinrich Bedford-Strohm - Bild: Michael McKee

Heinrich Bedford-Strohm ist Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern und seit November 2014 Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Damit ist der Theologe der höchste geistliche Vertreter der Protestanten hierzulande. Im Interview mit Sven Lilienström, Gründer der Initiative Gesichter der Demokratie, spricht Bedford-Strohm über Demokratie in der Kirche, das Versagen der EU-Flüchtlingspolitik im Mittelmeer und warum es falsch ist, von einem „importierten Antisemitismus“ zu sprechen.

Herr Bischof, Sie sind seit November 2014 Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland. Wie immer lautet unsere erste Frage: Was bedeuten Demokratie und demokratische Werte für Sie ganz persönlich?

Für mich ist Demokratie ein Grund für große Dankbarkeit. Ich erlebe selbst immer wieder, wie wenig selbstverständlich Demokratie ist und wie sehr Menschen in anderen Teilen der Welt darum kämpfen, dass Demokratie in ihren Ländern wachsen kann. Deshalb bin ich sehr dankbar dafür, dass wir in einer parlamentarischen Demokratie leben dürfen.

Als Christ begreife ich Demokratie zudem als Ausdruck biblischer Grundüberzeugungen. Jeder Mensch ist zum „Bilde Gottes“ geschaffen. Deswegen ist es mir als Mensch und Christ gleichermaßen wichtig, mich für die Demokratie einzusetzen und diese zu verteidigen – gerade jetzt, wenn auch hierzulande Demokratie und Menschenwürde zunehmend unter Druck geraten.

Ein Beispiel dafür, wie ich mich selber für Demokratie engagiere: Ich bin Sprecher des „Bayerischen Bündnis für Toleranz – Demokratie und Menschenwürde schützen“, welches rund 80 Organisationen der bayerischen Zivilgesellschaft zusammenschließt. Wir setzen uns unter anderem aktiv gegen Rechtsextremismus ein – ein sehr beglückendes Bündnis, das die Kraft zivilgesellschaftlichen Engagements zum Ausdruck bringt.

Für die Evangelische Kirche ist die Demokratie eine „politische Lebensform der Freiheit“. Doch wie demokratisch ist die Kirche selbst und wer ist der Souverän: das Volk oder Christus? Können Kirchen demokratisch sein?

Zunächst einmal: Als Landesbischof bin nicht durch „irgendwen dort oben“ eingesetzt worden. Vielmehr hat mich die Landessynode, also die Vertretung der Gemeinden aus unserer bayerischen Landeskirche, gewählt. Und auch zum EKD-Ratsvorsitzenden wurde ich gewählt – in diesem Fall von der EKD-Synode. Somit gibt es Wahlen, als demokratisch parlamentarisches Element analog zur säkularen Demokratie, auch in unserer Kirche. Dahinter steht unser evangelisches Verständnis vom Priestertum aller Gläubigen – alle Menschen sind vor Gott – auch als Christen – gleich.

Das unterscheidende Element zur säkularen Demokratie ist die Verantwortlichkeit gegenüber dem Zentrum unseres Glaubens – nämlich Jesus Christus. Wir als Kirche und Gemeinschaft beziehen uns auf das Zeugnis der Bibel von Jesus Christus. Das ist unsere Gesprächsgrundlage, die auch bei allen Diskussionen und Wahlvorgängen die Basis bildet – die Basis, mit der wir uns in den öffentlichen Diskurs einmischen. Wir tun das vor dem Hintergrund unserer starken jüdisch-christlichen Tradition und sehen unsere Rolle durchaus auch als eine öffentliche – als eine auf das Gemeinwohl hin ausgerichtete Gemeinschaft, die immerhin nach wie vor die Mehrheit der Menschen in Deutschland vertritt.

Globale Herausforderungen wie die Corona-Pandemie, der Klimawandel oder die Flüchtlingskrise spalten die Gesellschaft zunehmend. Was macht die Evangelische Kirche in Deutschland, um die Gesellschaft zusammenzuhalten?

Das allerwichtigste ist natürlich unsere christliche Botschaft. Die hat etwas ganz Besonderes, Starkes und Charakteristisches, nämlich, dass Gottesliebe und Nächstenliebe untrennbar zusammengehören. Man kann nicht zu Gott beten, ohne sich für den Nächsten zu interessieren.

Dietrich Bonhoeffer, ein Theologe, der von den Nazis als Widerstandskämpfer hingerichtet wurde, hat einmal gesagt: „Unser Christsein wird heute nur in zweierlei bestehen: Im Beten und Tun des Gerechten unter den Menschen.“ Genau das ist die christliche Existenz. Vor diesem Hintergrund gehört das „Dasein für andere“, das Dasein für die Schwachen, Verletzlichen und diejenigen, die keine Stimme haben, zur DNA der christlichen Religionsgemeinschaft.

Für den sozialen Zusammenhalt einer Gesellschaft ist es von zentraler Bedeutung, dass es Gemeinschaften gibt, die nicht ihre Eigeninteressen ins Zentrum stellen, sondern den Gemeinsinn und das Gemeinwohl. Wichtig ist, dass alle Menschen – unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit – gut leben können. Denn: Nächstenliebe ist keine Christenliebe. Nächstenliebe ist eine Liebe, die für jeden Menschen gilt – nicht national oder europäisch, sondern universal. In einer Zeit, in der wir extreme globale Ungerechtigkeit sehen, etwa beim Impfen, aber auch bei der Verteilung von Nahrung und Ressourcen, ist das ein starker kritischer Impuls – ein Impuls der nicht spalten, sondern die Gesellschaft einen soll. Eine Gemeinschaft, in der alle Menschen in Würde leben können – das ist das Ziel!

Apropos Flüchtlingskrise: Laut IOM sind seit Jahresbeginn 743 Menschen (Stand: 25. Mai 2021) während der Flucht über das Mittelmeer gestorben – die Situation in den Camps ist katastrophal. Hat die EU-Flüchtlingspolitik versagt?

Es ist jedenfalls eine Schande, dass Menschen an den Grenzen Europas ertrinken und diese Zustände immer noch geduldet werden. Und es ist erst recht eine Schande, dass die einzigen, die überhaupt noch retten – nämlich die zivilen Seenotretter*innen – in ihrer Arbeit behindert werden. All das steht im tiefen Widerspruch zu den Grundorientierungen Europas und des Christentums.

Klar ist doch: Reden alleine reicht nicht, wir müssen auch handeln. Das wir Menschen nicht einfach ertrinken lassen dürfen, gehört für mich zu den universalen Wahrheiten des Christentums. Genauso wenig ist es ist hinnehmbar, dass Menschen an der Grenze zu Bosnien jahrelang sich selbst überlassen bleiben und Kinder im Winter ohne Schuhe durch den Schnee waten müssen. Dass sich diese unerträglichen Zustände – und das, obgleich wir Kirchen diese zum wiederholten Male auch öffentlich ansprechen – noch immer nicht geändert haben, ist aus meiner Sicht ein moralischer Skandal. Es ist traurig, dass die europäische Idee von Frieden und Humanität immer mehr die Botschaft vermittelt: „Leider können wir nichts tun.“ Das kann nicht sein!

Nachfrage: Haben Sie die Hoffnung, dass sich das in naher Zukunft ändert?

Ich habe immer Hoffnung. Ich gehe immer davon aus, dass die Bemühungen von vielen Menschen auch Früchte tragen. So haben wir mittlerweile einen recht breiten Konsens darüber gefunden, was die Schaffung eines Verteilmechanismus für gerettete Menschen anbelangt. Wir sind uns einig, dass diese Menschen nicht einfach „hin und her“ geschoben werden können oder wochenlang auf Schiffen ausharren müssen, bis sie überhaupt an Land dürfen. Da sehe ich schon Fortschritte. Auch der Bundesinnenminister hat sich während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft immerhin dafür eingesetzt, einen solchen Verteilmechanismus zu erreichen – leider ist er damit gescheitert.

Ich sehe nicht nur die Defizite. Ich sehe auch, wie viele Menschen sich in unterschiedlichen Ländern Europas für Humanität einsetzen. Das deutlichste Beispiel dafür ist das Bündnis Seebrücke. Das sind Kreise, Städte und Kommunen in Deutschland und darüber hinaus, die sagen: „Wir wollen gerettete Flüchtlinge und Schutzsuchende aufnehmen. Schickt sie uns. Wir nehmen sie auf.“ Niemand in den Ministerien soll sagen, unsere Bevölkerung verträgt nicht so viele Flüchtlinge. Die Oberbürgermeister*innen und Bürgermeister*innen, die direkt gewählt wurden, sind die Stimmen der Bevölkerung. Deswegen müssen endlich die Hindernisse von „oben“ beiseite geräumt werden, damit Menschen, die dieses Humanitätsempfinden haben und handeln wollen, auch handeln dürfen!

Auf dem Kirchentag 2019 wurde beschlossen, ein Schiff zur Seenotrettung zu chartern – die „Sea-Watch 4″. Letztes Jahr begann der Einsatz im Mittelmeer. Wie ist die Bilanz bisher und wie gefährlich sind die Einsätze für die Crew?

Der Impuls des Evangelischen Kirchentags 2019 hat zur Gründung des Bündnisses „United4Rescue“ geführt. Dieses Bündnis umfasst mittlerweile fast 800 Organisationen und Institutionen, die gemeinsam das Ziel haben, Menschen vor dem Ertrinken zu retten. Dass die Arbeit der zivilen Seenotretter*innen im letzten Jahr immer wieder behindert wurde, hat gleichwohl nicht verhindert, dass zahlreiche Menschenleben gerettet werden konnten. Die „Sea-Watch 4″ wurde von den gesammelten Spendengeldern des Bündnisses „United4Rescue“ angeschafft und hat bereits auf ihrem ersten Einsatz über 350 Menschen vor dem Ertrinken gerettet. Nachdem sie bekanntlich lange von den italienischen Behörden festgehalten wurde und erst nach einer Gerichtsentscheidung wieder auslaufen durfte, gelang es, weitere 455 Menschen zu retten. Jedes einzelne Menschenleben ist diese Anstrengung wert.

Das Bündnis United4Rescue hat inzwischen mit einer neuen und engagierten Spendenkampagne die „Sea-Eye 4″ – also das Schiff einer anderen Rettungsorganisation – finanziell unterstützen können. Und auch die Sea-Eye 4 hat in ihrem ersten Einsatz über 400 Menschen gerettet. Wir Kirchen wollen mit unserem Engagement für die zivile Seenotrettung ein deutliches Signal und eine Botschaft in Richtung der politischen Akteur*innen senden: Wir nehmen es nicht hin, dass Mitgliedsstaaten der Europäischen Union bei der Seenotrettung wegschauen, diese anderen überlassen und deren Einsätze schlussendlich noch behindern.

Stichwort „Antijüdische Ausschreitungen“: Haben wir in Deutschland ein Problem mit Antisemitismus in der Migrationsgesellschaft? Und wenn ja, darf man im Land der NS-Mörder von einem „importierten“ Problem sprechen?

Natürlich gibt es auch ein Problem unter Migrant*innen aus bestimmten Ländern, in denen Antisemitismus gelebt wird – insbesondere aus Ländern im Nahen Osten. Insofern ist es eine herausfordernde Aufgabe, den Menschen, die nach Deutschland kommen, sehr klar zu sagen, dass jegliche Form von Antisemitismus hierzulande absolut tabu und nicht akzeptabel ist. Klar muss sein: Wer zu uns kommt, muss unsere Werte annehmen.

Dennoch ist es falsch, von einem „importierten Problem“ zu sprechen. Das hieße ja, der Antisemitismus ist erst durch Migrant*innen nach Deutschland gekommen. Diese Annahme ist natürlich völliger Unsinn, denn der Antisemitismus wird traditionell von Rechtsradikalen geprägt – und das in großer Zahl. Das ist das Hauptproblem. Wenn also – insbesondere von rechts – der Vorwurf eines „importierten Antisemitismus“ in den Raum gestellt wird, dann ist das ein Hohn. Der Rechtsextremismus ist der eigentliche Schoß für Antisemitismus.

Natürlich gibt es auch Antisemitismus von links – der ist genauso unerträglich. Das ist ein Antisemitismus, der den Nahostkonflikt dazu missbraucht, über die politisch notwendigen Diskussionen hinaus – die natürlich auch Kritik am Handeln der israelischen Regierung beinhalten können – tiefsitzende antisemitische Vorurteile zum Ausdruck zu bringen. Klar ist: Das Existenzrecht Israels muss stets die Grundlage für unsere Diskussionen sein und bleiben. Vor diesem Hintergrund setzen wir uns als Kirchen ganz klar gegen jede Form des Antisemitismus ein.

Ich sage aber auch sehr deutlich: Entscheidend für den zunehmenden Antisemitismus in Deutschland sind diejenigen Akteur*innen, die dem Nationalsozialismus mit seinen mörderischen Ideologien heute wieder eine Bühne verschaffen. Das zu verhindern ist unsere größte Herausforderung!

Herr Bischof, Ihre Amtszeit als EKD-Ratsvorsitzender endet im Oktober 2021. Worauf liegt der Fokus in den letzten Monaten Ihrer Amtszeit und was haben Sie sich für die Zeit danach vorgenommen – beruflich und privat?

Natürlich sind die Fragen rund um die Bewältigung der Pandemiefolgen für mich derzeit ein ganz zentrales Thema. Das wird auch in den nächsten Monaten bis zum Ende meiner Zeit als EKD-Ratsvorsitzender so bleiben. Wie können wir als Kirchen helfen, dass eine verwundete Gesellschaft Schritte der Heilung gehen kann? Wie können wir verhindern, dass gesellschaftliche Spaltungen – wie etwa bei der Impffrage – immer stärker werden und bis in die Familien hineinwirken? Wie können wir verhindern, dass sich diese gesellschaftliche Spaltung weiter verfestigt? Wie gehen wir respektvoll mit Menschen um, die andere Meinungen haben? Das sind Fragen, bei deren Antworten auch die Kirche eine ganz wichtige Rolle spielen muss.

Unsere Aufgabe bleibt es, menschlich miteinander zu reden und die Menschen als solche – unabhängig von ihrer Ideologie – zu sehen. Allerdings muss klar sein: Antisemitismus ist keine Meinung. Hass ist keine Meinung. Deswegen gibt es keine Toleranz gegenüber programmatischer Intoleranz.

Des Weiteren ist mir das Thema Ökumene wichtig. Diesbezüglich sind wir auf einem sehr erfreulichen Weg in Deutschland, den wir weitergehen und stärken müssen – auch nach meiner Zeit als EKD-Ratsvorsitzender.

Entscheidend ist natürlich auch die Teilhabe der Jugend am kirchlichen Leben. Das ist für den Aufbruch, den wir als evangelische Kirche brauchen, zentral. Dass die EKD-Synode im Mai die 25-jährige Studentin Anna-Nicole Heinrich in das Amt der Präses gewählt hat, ist für mich ein klares Zeichen und die Frucht vieler Bemühungen der letzten Jahre. Jetzt freue ich mich noch auf ein halbes Jahr im Duo „Heinrich & Heinrich“ – wir kennen uns ja schon länger und arbeiten sehr gut zusammen.

Nicht zuletzt müssen wir uns mit der Frage der Finanzen befassen. Wie können wir mit weniger Geld kraftvoll Kirche sein? Wie können wir auch mit zurückgehenden finanziellen Mitteln die wunderbare Botschaft des Evangeliums ausstrahlen, ohne dass „Verlust- und Niedergangsgefühle“ überhandnehmen? Denn wir werden mit weniger Geld auskommen müssen und haben schon sehr früh finanzielle Konsolidierungsprozesse eingeleitet.

Und dann bin ich ja noch zwei Jahre Landesbischof in Bayern – das ist mein „Hauptjob“. Ich hoffe, dass ich nach meiner Zeit als EKD-Ratsvorsitzender ein wenig mehr Zeit für meine Familie habe – insbesondere für meinen zweijährigen Enkel – und jede Minute genießen kann, auch wenn mein Terminkalender überquillt. Ich hoffe schon, dass ich bald ein bisschen mehr Freizeit habe.

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