Der britische Premierminister Boris Johnson hat mit Äußerungen über angebliche Versäumnisse der Pflegebranche in seinem Land zu Beginn der Corona-Pandemie einen Sturm der Entrüstung ausgelöst. Mark Adams vom Pflegeverband Community Integrated Care warf Johnson am Dienstag im Rundfunksender BBC vor, er versuche die „Geschichte umzuschreiben“ und die Pflegeeinrichtungen für die Versäumnisse der Regierung verantwortlich zu machen.
Johnson hatte in einem Interview am Montag gesagt: „Wir haben festgestellt, dass zu viele Pflegeheime sich nicht wirklich an die Vorschriften gehalten haben, so wie sie es hätten tun sollen.“
In Großbritannien sind bislang mehr als 44.000 Menschen an dem Coronavirus gestorben, viele in Alten- und Pflegeheimen. Die Regierung hatte zu Beginn der Krise erklärt, sie gehe nicht von einem besonderen Risiko in den Pflegeheimen aus, und erst mehr als drei Wochen nach dem landesweiten Lockdown eingewilligt, alle Patienten vor ihrem Transfer in Pflegeheime sowie sämtliche Pflegeheimbewohner mit Covid-19-Symptomen zu testen.
Nach Angaben von Kritikern verschärfte auch die schnelle Unterbringung älterer Krankenhauspatienten in Pflegeheim die Ausbreitung des Virus, als Betten für mögliche Coronavirus-Patienten geräumt werden sollten.
Johnsons Äußerungen seien ein „widerlicher“ Versuch, von einer „absoluten Führungs-Posse der Regierung“ abzulenken, wurde ein Vertreter der Pflegebranche von britischen Medien zitiert. Sie seien bestenfalls „plump und feige“, sagte Adams der BBC. Das Nationale Pflege-Forum erklärte, Johnsons Äußerungen seien „weder richtig noch willkommen“. Die Independent Care Group erklärte, die meisten Pflegeanbieter hätten „angesichts von langsamen und widersprüchlichen Empfehlungen das absolut Beste getan“.
Nach Angaben der Nationalen Statistikbehörde wurden in England und Wales bis zum 26. Juni 14.852 Todesfälle in Pflegeheimen gezählt, bei denen eine Infektion mit dem Coronavirus vorlag. Diese offizielle Zahl gilt jedoch als zu niedrig.