Ob Verdächtige aufgrund eines Europäischen Haftbefehls nach Polen ausgeliefert werden, muss nach Ansicht eines Generalanwalts am Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg in jedem Einzelfall geprüft werden. Grundsätzlich nicht nach Polen auszuliefern, würde wahrscheinlich zur Straffreiheit zahlreicher Taten führen, argumentierte Generalanwalt Manuel Campos Sánchez-Bordona am Donnerstag in seinen Schlussanträgen. Ein niederländisches Gericht will auf diese Einzelfallprüfung verzichten. (Az. C-354/20 PPU und C-412/20 PPU)
Der EuGH entschied im Juli 2018, dass EU-Staaten einen Haftbefehl aus Polen nicht vollstrecken müssen, wenn den Tatverdächtigen dort kein faires Verfahren erwartet. Allerdings müsse dies in zwei Schritten geprüft werden – erstens auf „systemische und allgemeine Mängel“, die die Unabhängigkeit der dortigen Justizbehörden beeinträchtigen, und zweitens auf ernsthafte Gründe für die Annahme, dass das Grundrecht des betroffenen Verdächtigen auf ein faires Verfahren verletzt werden kann.
Die Rechtbank Amsterdam glaubt, dass eine solche doppelte Prüfung angesichts der jüngsten politischen Entwicklungen in Polen überflüssig wurde – die Unabhängigkeit der dortigen Gerichte sei nicht mehr garantiert. Sie legte dem EuGH daher die Frage vor, ob die Einzelfallprüfung noch nötig ist.
Das ist sie, bekräftigte der Generalanwalt. Die Auslieferung an einen anderen Mitgliedsstaat könne nur dann grundsätzlich ausgesetzt werden, wenn der Europäische Rat eine „schwere und anhaltende Verletzung“ der Rechtsstaatlichkeit feststelle. Die europäischen Richter müssen dem Generalanwalt bei ihrer Entscheidung nicht folgen, tun dies aber häufig. Ein Termin für das Urteil ist noch nicht bekannt.