Weniger als drei Wochen vor dem Austritt Großbritanniens aus dem EU-Binnenmarkt haben London und Brüssel ihre Verhandlungen über ein Handelsabkommen nach dem Brexit nochmals verlängert. Der britische Premier Boris Johnson zeigte sich am Sonntag aber skeptisch, dass es noch zu einer Einigung kommt. Die Regierung in Irland und britische Wirtschaftsverbände begrüßten indessen die Verlängerung der Gespräche und riefen zu einer Einigung auf.
„Trotz der Erschöpfung nach fast einem Jahr Verhandlungen“ und zahlreicher Fristüberschreitungen wollten beide Seiten „noch einen Schritt weitergehen“, hieß es in einer gemeinsamen Erklärung nach einem Telefonat von Johnson und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Sonntagmittag. Die Verhandlungsführer seien beauftragt worden, „die Gespräche fortzusetzen“.
Johnson und von der Leyen hatten zuletzt am Mittwochabend gesprochen, als der Premier nach Brüssel gereist war. Dabei hatten sie sich eine Frist bis Sonntag gesetzt. Einen neuen Termin für das Ende der Verhandlungen legten sie nun nicht fest.
„Unsere Verhandlungsteams haben in den vergangenen Tagen Tag und Nacht gearbeitet“, hieß es in der gemeinsamen Erklärung. Die Chefunterhändler David Frost und Michel Barnier sollten nun prüfen, „ob ein Abkommen zu diesem späten Zeitpunkt noch erreicht werden kann“.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sagte am Sonntag, es müsse „alles“ versucht werden, „um zu einem Ergebnis zu kommen“. Jede Möglichkeit, ein Abkommen zu erzielen, sei „hochwillkommen“.
„Ich fürchte, wir sind bei einigen wichtigen Dingen noch sehr weit auseinander“, sagte Johnson. „Aber wo Leben ist, ist auch Hoffnung.“ Großbritannien werde bei den Verhandlungen „so kreativ sein, wie wir nur können“, versprach Johnson. Er habe versucht, direkt mit Paris oder Berlin zu verhandeln, sei aber von der EU abgewiesen worden.
Es sei jedoch „am wahrscheinlichsten“, dass sich Großbritannien auf einen Handel mit der EU nach Bedingungen der Welthandelsorganisation WTO vorbereiten müsse, fügte Johnson hinzu. „Was auch immer passiert, Großbritannien wird sehr, sehr gut abschneiden“, betonte er.
Mehrere britische Unternehmer begrüßten die Fortsetzung der Verhandlungen, widersprachen Johnsons optimistischen Prognosen für die wirtschaftliche Zukunft des Landes jedoch heftig.
„Wir benötigen jetzt Unterhändler, die die Arbeit zu Ende bringen und sich auf das Abkommen einigen, das wir alle so dringend brauchen“, schrieb der Chef des britischen Automobilhersteller-Verbands, Mike Hawes, auf Twitter. Ein „No-Deal“ wäre eine Katastrophe für den britischen Automobilsektor, fügte er hinzu. Auch die britischen Handelskammern appellierten an London und Brüssel, nicht aufzugeben.
Irland, das als Nachbarland stark vom Ausgang der Verhandlungen betroffen ist, begrüßte die Verlängerung der Gespräche vorsichtig. „Wir müssen jetzt die Nerven behalten und den Unterhändlern erlauben, auch in diesem späten Stadium noch ein Stück voranzukommen“, schrieb der irische Außenminister Simon Coveney auf Twitter. Eine Einigung sei „offensichtlich sehr, sehr schwierig, aber möglich“.
Die schottische Regionalregierung forderte unterdessen ein Ende der „lähmenden Unsicherheit“ eines möglichen Brexits ohne Handelsabkommen, welcher das Land zusätzlich zur Corona-Pandemie stark belasten werde.
Großbritannien war zum 1. Februar aus der EU ausgetreten, bis zum Jahresende bleibt das Land aber noch im EU-Binnenmarkt und in der Zollunion. Inzwischen ist die Zeit für die rechtzeitige Ratifizierung eines angestrebten Handelsabkommens äußerst knapp.
Hauptstreitpunkte in den Verhandlungen sind seit Monaten faire Wettbewerbsbedingungen, die Kontrolle eines künftigen Abkommens und die Fangrechte für EU-Fischer in britischen Gewässern. Aus britischen Regierungskreisen hatte es am Samstagabend geheißen, das bisherige Angebot der EU sei „inakzeptabel“.
Ohne Handelsabkommen würden im beiderseitigen Handel zum Jahreswechsel Zölle nach WTO-Konditionen erhoben. Wirtschaftsverbände rechnen dann mit massiven Staus an den Grenzen im Lieferverkehr, der Unterbrechung wichtiger Lieferketten der Industrie und warnen vor Milliarden an Mehrkosten und Einnahmeausfällen.