Kurz vor den Gesprächen im Koalitionsausschuss über die Wahlrechtsreform haben Union und SPD ihre wechselseitigen Vorwürfe bekräftigt. SPD-Chef Norbert Walter-Borjans beschuldigte den Koalitionspartner am Dienstag im SWR, sich mit seinem Reformvorschlag Vorteile sichern zu wollen. CSU-Chef Markus Söder wiederum warf den Sozialdemokraten im „Spiegel“ vor, aus taktischen Gründen auf Zeit zu spielen.
Die Spitzen der großen Koalition kommen am Dienstagnachmittag zusammen, um unter anderem über den verfahrenen Streit über eine Wahlrechtsreform zu beraten. Die Reform soll eine weitere Vergrößerung des Bundestags verhindern.
Das Konzept der Unionsfraktion sieht unter anderem vor, die Zahl der Wahlkreise von 299 auf 280 zu verringern. Außerdem sollen bis zu sieben Überhangmandate nicht mit zusätzlichen Parlamentssitzen für die anderen Fraktionen auszugleichen. Davon würde die Union voraussichtlich selbst profitieren.
Walter-Borjans will dies nicht akzeptieren. Es dürfe nicht sein, „dass eine Partei Vorschläge macht, die so sind, dass CDU und CSU am Ende mehr Sitze im Parlament haben, als sie Stimmanteile bei der Wahl errungen haben“, sagte er im SWR. Im Koalitionsausschuss müsse daher eine Einigung gefunden werden, „die diesen Versuch, sich einen Vorteil zu verschaffen, vereitelt“.
Zugleich vermutete er hinter dem Unionsvorschlag insgesamt taktisches Kalkül. CDU und CSU seien lange nicht bereit gewesen, die Zahl der Wahlkreise zu senken. „Jetzt schlägt man das vor und hofft, dass die SPD es ablehnt, weil es auch schon eine ganze Reihe CDU und CSU-Kandidaten gibt, die benannt sind“, sagte der SPD-Chef. Im Falle eines Neuzuschnitts von Wahlkreisen müsste die Kandidatenaufstellung wiederholt werden.
Walter-Borjans verteidigte den Vorschlag seiner Partei, zunächst nur für die kommende Bundestagswahl im Herbst 2021 die Zahl der Parlamentssitze auf 690 zu deckeln. Eine solche Überbrückungslösung sei möglich. „Aber dann müssen sich alle bewegen.“ Die SPD beharre außerdem auf einer gleichmäßigen Besetzung der Wahllisten mit Männern und Frauen, was die Union bislang ablehnt.
CSU-Chef Söder erhob seinerseits Vorwürfe gegen die SPD. „Die Union reicht den Sozialdemokraten die Hand für eine Lösung, die schon für den nächsten Bundestag gelten soll“, sagte er dem „Spiegel“. „Ich habe aber das Gefühl, dass einige SPD-Strategen denken, ein größeres Parlament könnte für ein rot-rot-grünes Bündnis erfolgsversprechender sein.“ Die „Verzögerung“ des Koalitionspartners wirke daher „taktisch motiviert“.
Zum Vorwurf, seine Partei habe die Sache selbst verschleppt und erst sehr spät einen gemeinsamen Vorschlag mit der CDU vorgelegt, sagte Söder: „Aber jetzt liegt er rechtzeitig auf dem Tisch.“ Ein Tor zähle beim Fußball auch dann, „wenn es in der 90. Minute fällt“.
Sollte keine Einigung gelingen, hält Söder dies nicht für allzu dramatisch: „100 mehr gewählte Abgeordnete sind keine Katastrophe für die Demokratie, wenn sie dabei helfen, den Bürgern die Politik näher zu bringen“, sagte er dem „Spiegel“.