Die Post-Brexit-Gespräche zwischen der EU und Großbritannien stecken fest

Symbolbild: Brexit
Symbolbild: Brexit

Seit dem 1. Februar ist Großbritannien kein EU-Mitglied mehr. Bis Jahresende bleiben die Briten aber noch im Binnenmarkt und in der Zollunion. Die Übergangsphase soll dazu dienen, mit der EU ein Handelsabkommen auszuarbeiten. Doch seit Monaten stecken die Verhandlungen fest. Der britische Premier Boris Johnson droht nun sogar mit einseitigen Änderungen am Brexit-Vertrag. Ist das nur Verhandlungspoker oder scheitern die Gespräche?

Wo stehen die Verhandlungen?

Die EU-Staaten haben Großbritannien eine Freihandelszone ohne Zölle und Einfuhrquoten in Aussicht gestellt. Doch trotz eines beschleunigten Verhandlungstempos habe sich auch zuletzt kaum etwas bewegt, sagt Jannike Wachowiak vom Brüsseler Institut European Policy Centre (EPC). Beide Seiten stritten weiter über ein Fischereiabkommen, den Umgang mit Staatsbeihilfen und faire Wettbewerbsbedingungen.

Bis wann muss ein Abkommen stehen?

Eine Vereinbarung müsse bis Ende Oktober oder spätestens Mitte November fertig sein, sagt Nicolai von Ondarza von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). „Dann wird es aber sehr knapp.“ Denn das Abkommen müsste noch durch das Europaparlament ratifiziert werden.

Was bedeuten die britischen Pläne für eine Änderung des Austrittsabkommens?

Überraschend hat London diese Woche angekündigt, einseitig den im Januar verabschiedeten Brexit-Vertrag ändern zu wollen. Dabei geht es um die Aussetzung von Zollregelungen im Warenhandel für die Provinz Nordirland und von Vorgaben für Staatsbeihilfen an britische Unternehmen. Der für Nordirland zuständige Staatssekretär Brandon Lewis räumte freimütig ein, dass dies ein Verstoß gegen internationales Recht wäre. 

Ist das nur ein Bluff, um den Druck auf die EU zu erhöhen?

Für Ondarza geht das „über den normalen Verhandlungsdruck hinaus“. Denn Johnson signalisiere, dass Großbritannien „kein verlässlicher Partner“ sei. „Die EU könnte kaum mehr ernsthaft mit dem Vereinigten Königreich verhandeln.“ 

Wie reagiert die EU?

Die EU-Kommission forderte London auf, die umstrittenen Änderungspläne bis spätestens Ende September zurückzunehmen. Andernfalls droht sie mit rechtlichen Schritten, was zu einer Klage beim Europäischen Gerichtshof oder der Anrufung des Streitschlichtungsgremiums zum Austrittsvertrag führen könnte. Bekommt die EU dort Recht, könnten Strafgelder gegen Großbritannien verhängt werden.

Will Johnson überhaupt noch ein Abkommen?

Der Premier sagte diese Woche, auch ein No deal sei ein „gutes Ergebnis“ für Großbritannien. Wachowiak glaubt, „dass Johnson selbst noch unentschieden ist, ob ein Deal in seinem innenpolitischen Interesse ist oder nicht“. Die Frage sei, ob er angesichts der harten Haltung vieler Brexit-Befürworter in seiner Partei „Kompromisse dafür gesichtswahrend eingehen kann“.

Wie könnte ein Durchbruch erreicht werden?

Angesichts der Blockade sei klar, dass die Großbritannien-Frage demnächst wieder „auf die höchste politische Ebene“ müsse, sagt Ondarza. Denkbar seien direkte Gespräche zwischen Johnson und Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Der Gipfel der EU-Staats- und Regierungschefs Mitte Oktober müsse dann entscheiden, „wie flexibel die EU sein will“.

Was für eine Art Abkommen ist überhaupt noch möglich?

Die Aushandlung von Handelsverträgen mit der EU dauert normalerweise Jahre. Wegen des Zeitdrucks lasse sich aber nicht mehr über Zölle für einzelne Branchen verhandeln, sagt Wachowiak. Ziel könne nur ein Abkommen ohne jegliche Zölle sein. Damit wäre es zwar „deutlich weniger als der Binnenmarkt, aber deutlich mehr als die EU-Handelsabkommen etwa mit Kanada oder Japan“, sagt Ondarza.

Was würde ein Scheitern bedeuten?

Großbritannien würde ohne jegliche Nachfolgeregelung zum Jahreswechsel den Binnenmarkt und die Zollunion verlassen. Die Folgen wären „dramatisch“ und würden „Zölle, Grenzkontrollen und Mengenbeschränkungen im Handel“ bedeuten, sagt Ondarza. „Und das würde in einer Zeit kommen, wo die Wirtschaft durch die Corona-Pandemie sowieso stark beschädigt ist und die Reserven vieler Unternehmen aufgebraucht sind.“

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